Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

pkl_152.001
Novellen von geringem Umfange nennt man Novelletten.

pkl_152.002
pkl_152.003

§. 218. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts pkl_152.004
hat die deutsche Literatur eigentliche Romane, pkl_152.005
aber schon jetzt ist die Masse derselben eine unabsehbare, pkl_152.006
und ihre Zahl mehr denn Legion. *) Der Roman ist, pkl_152.007
wie keine andere Dichtungsart, ins Volk gedrungen; pkl_152.008
wie er im Allgemeinen gewirkt, das läßt die pkl_152.009
Verordnung der Behörde ahnen, die die Leihbibliotheken pkl_152.010
nur seinetwillen unter polizeiliche Controlle stellt. pkl_152.011
Wir wollen nicht das Kind mit dem Bade ausschütten pkl_152.012
und dem guten Roman seinen Werth und seine heilsame pkl_152.013
Wirkung absprechen, aber wir verhüllen unser pkl_152.014
Antlitz vor dem maaßlosen Verderben, das uns der pkl_152.015
belletristische Schund, das uns die schlechten pkl_152.016
Romane
gebracht. Es ist das Geringste, daß dem pkl_152.017
Volke der Geschmack an wahrer Poesie damit verdorben; pkl_152.018
es ist noch nicht das Aergste, daß von Tausenden pkl_152.019
Zeit, Geld und Beruf der "Lektüre" geopfert wird --

*) pkl_152.020
"Der Boden des Romans und der Novelle ist offenbar der pkl_152.021
ergiebigste und fruchtbarste. Der Roman, das sogenannte pkl_152.022
moderne Epos, ist das allgemeine Futter der Lesewelt, pkl_152.023
jeder Magen ist ihm recht, er erkennt keinen Unterschied pkl_152.024
der Stände an, er bringt, demokratisch wie er ist, eine pkl_152.025
gewisse Gleichmäßigkeit der Anschauungen und Empfindungen pkl_152.026
in die hohen und niedern Stände, er pflanzt dieselben pkl_152.027
Gefühle in die Dame von Stande, welche hinter seidenen pkl_152.028
Fenstervorhängen lies't, wie in die Hökerin und Trödlerin, pkl_152.029
welche in bretener Bude den kühnen Combinationen der pkl_152.030
Romantik nachhängt. Der Roman wird daher mehr als pkl_152.031
jede andere poetische und prosaische Gattung fabrikmäßig pkl_152.032
betrieben, weil eine so ungeheure Zahl von Consumenten vorhanden pkl_152.033
ist." Herm. Marggraff, Deutschlands jüngste pkl_152.034
Literatur- und Kulturepoche.

pkl_152.001
Novellen von geringem Umfange nennt man Novelletten.

pkl_152.002
pkl_152.003

§. 218. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts pkl_152.004
hat die deutsche Literatur eigentliche Romane, pkl_152.005
aber schon jetzt ist die Masse derselben eine unabsehbare, pkl_152.006
und ihre Zahl mehr denn Legion. *) Der Roman ist, pkl_152.007
wie keine andere Dichtungsart, ins Volk gedrungen; pkl_152.008
wie er im Allgemeinen gewirkt, das läßt die pkl_152.009
Verordnung der Behörde ahnen, die die Leihbibliotheken pkl_152.010
nur seinetwillen unter polizeiliche Controlle stellt. pkl_152.011
Wir wollen nicht das Kind mit dem Bade ausschütten pkl_152.012
und dem guten Roman seinen Werth und seine heilsame pkl_152.013
Wirkung absprechen, aber wir verhüllen unser pkl_152.014
Antlitz vor dem maaßlosen Verderben, das uns der pkl_152.015
belletristische Schund, das uns die schlechten pkl_152.016
Romane
gebracht. Es ist das Geringste, daß dem pkl_152.017
Volke der Geschmack an wahrer Poesie damit verdorben; pkl_152.018
es ist noch nicht das Aergste, daß von Tausenden pkl_152.019
Zeit, Geld und Beruf der „Lektüre“ geopfert wird —

*) pkl_152.020
„Der Boden des Romans und der Novelle ist offenbar der pkl_152.021
ergiebigste und fruchtbarste. Der Roman, das sogenannte pkl_152.022
moderne Epos, ist das allgemeine Futter der Lesewelt, pkl_152.023
jeder Magen ist ihm recht, er erkennt keinen Unterschied pkl_152.024
der Stände an, er bringt, demokratisch wie er ist, eine pkl_152.025
gewisse Gleichmäßigkeit der Anschauungen und Empfindungen pkl_152.026
in die hohen und niedern Stände, er pflanzt dieselben pkl_152.027
Gefühle in die Dame von Stande, welche hinter seidenen pkl_152.028
Fenstervorhängen lies't, wie in die Hökerin und Trödlerin, pkl_152.029
welche in bretener Bude den kühnen Combinationen der pkl_152.030
Romantik nachhängt. Der Roman wird daher mehr als pkl_152.031
jede andere poetische und prosaische Gattung fabrikmäßig pkl_152.032
betrieben, weil eine so ungeheure Zahl von Consumenten vorhanden pkl_152.033
ist.“ Herm. Marggraff, Deutschlands jüngste pkl_152.034
Literatur- und Kulturepoche.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0178" n="152"/><lb n="pkl_152.001"/>
Novellen von geringem Umfange nennt man <hi rendition="#g">Novelletten.</hi></p>
              <lb n="pkl_152.002"/>
              <lb n="pkl_152.003"/>
              <p>  §. 218. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts <lb n="pkl_152.004"/>
hat die deutsche Literatur eigentliche Romane, <lb n="pkl_152.005"/>
aber schon jetzt ist die Masse derselben eine unabsehbare, <lb n="pkl_152.006"/>
und ihre Zahl mehr denn Legion. <note xml:id="PKL_152_1" place="foot" n="*)"><lb n="pkl_152.020"/>
&#x201E;Der Boden des Romans und der Novelle ist offenbar der <lb n="pkl_152.021"/>
ergiebigste und fruchtbarste. Der Roman, das sogenannte <lb n="pkl_152.022"/>
moderne Epos, ist das allgemeine Futter der Lesewelt, <lb n="pkl_152.023"/>
jeder Magen ist ihm recht, er erkennt keinen Unterschied <lb n="pkl_152.024"/>
der Stände an, er bringt, demokratisch wie er ist, eine <lb n="pkl_152.025"/>
gewisse Gleichmäßigkeit der Anschauungen und Empfindungen <lb n="pkl_152.026"/>
in die hohen und niedern Stände, er pflanzt dieselben <lb n="pkl_152.027"/>
Gefühle in die Dame von Stande, welche hinter seidenen <lb n="pkl_152.028"/>
Fenstervorhängen lies't, wie in die Hökerin und Trödlerin, <lb n="pkl_152.029"/>
welche in bretener Bude den kühnen Combinationen der <lb n="pkl_152.030"/>
Romantik nachhängt. Der Roman wird daher mehr als <lb n="pkl_152.031"/>
jede andere poetische und prosaische Gattung fabrikmäßig <lb n="pkl_152.032"/>
betrieben, weil eine so ungeheure Zahl von Consumenten vorhanden <lb n="pkl_152.033"/>
ist.&#x201C; <hi rendition="#g">Herm. Marggraff,</hi> Deutschlands jüngste <lb n="pkl_152.034"/>
Literatur- und Kulturepoche.</note> Der Roman ist, <lb n="pkl_152.007"/>
wie keine andere Dichtungsart, <hi rendition="#g">ins Volk</hi> gedrungen; <lb n="pkl_152.008"/> <hi rendition="#g">wie er im Allgemeinen gewirkt,</hi> das läßt die <lb n="pkl_152.009"/>
Verordnung der Behörde ahnen, die die Leihbibliotheken <lb n="pkl_152.010"/>
nur seinetwillen unter polizeiliche Controlle stellt. <lb n="pkl_152.011"/>
Wir wollen nicht das Kind mit dem Bade ausschütten <lb n="pkl_152.012"/>
und dem <hi rendition="#g">guten</hi> Roman seinen Werth und seine heilsame <lb n="pkl_152.013"/>
Wirkung absprechen, aber wir verhüllen unser <lb n="pkl_152.014"/>
Antlitz vor dem maaßlosen Verderben, das uns der <lb n="pkl_152.015"/> <hi rendition="#g">belletristische Schund,</hi> das uns die <hi rendition="#g">schlechten <lb n="pkl_152.016"/>
Romane</hi> gebracht. Es ist das Geringste, daß dem <lb n="pkl_152.017"/>
Volke der Geschmack an wahrer Poesie damit verdorben; <lb n="pkl_152.018"/>
es ist noch nicht das Aergste, daß von Tausenden <lb n="pkl_152.019"/>
Zeit, Geld und Beruf der &#x201E;Lektüre&#x201C; geopfert wird &#x2014;
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[152/0178] pkl_152.001 Novellen von geringem Umfange nennt man Novelletten. pkl_152.002 pkl_152.003 §. 218. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts pkl_152.004 hat die deutsche Literatur eigentliche Romane, pkl_152.005 aber schon jetzt ist die Masse derselben eine unabsehbare, pkl_152.006 und ihre Zahl mehr denn Legion. *) Der Roman ist, pkl_152.007 wie keine andere Dichtungsart, ins Volk gedrungen; pkl_152.008 wie er im Allgemeinen gewirkt, das läßt die pkl_152.009 Verordnung der Behörde ahnen, die die Leihbibliotheken pkl_152.010 nur seinetwillen unter polizeiliche Controlle stellt. pkl_152.011 Wir wollen nicht das Kind mit dem Bade ausschütten pkl_152.012 und dem guten Roman seinen Werth und seine heilsame pkl_152.013 Wirkung absprechen, aber wir verhüllen unser pkl_152.014 Antlitz vor dem maaßlosen Verderben, das uns der pkl_152.015 belletristische Schund, das uns die schlechten pkl_152.016 Romane gebracht. Es ist das Geringste, daß dem pkl_152.017 Volke der Geschmack an wahrer Poesie damit verdorben; pkl_152.018 es ist noch nicht das Aergste, daß von Tausenden pkl_152.019 Zeit, Geld und Beruf der „Lektüre“ geopfert wird — *) pkl_152.020 „Der Boden des Romans und der Novelle ist offenbar der pkl_152.021 ergiebigste und fruchtbarste. Der Roman, das sogenannte pkl_152.022 moderne Epos, ist das allgemeine Futter der Lesewelt, pkl_152.023 jeder Magen ist ihm recht, er erkennt keinen Unterschied pkl_152.024 der Stände an, er bringt, demokratisch wie er ist, eine pkl_152.025 gewisse Gleichmäßigkeit der Anschauungen und Empfindungen pkl_152.026 in die hohen und niedern Stände, er pflanzt dieselben pkl_152.027 Gefühle in die Dame von Stande, welche hinter seidenen pkl_152.028 Fenstervorhängen lies't, wie in die Hökerin und Trödlerin, pkl_152.029 welche in bretener Bude den kühnen Combinationen der pkl_152.030 Romantik nachhängt. Der Roman wird daher mehr als pkl_152.031 jede andere poetische und prosaische Gattung fabrikmäßig pkl_152.032 betrieben, weil eine so ungeheure Zahl von Consumenten vorhanden pkl_152.033 ist.“ Herm. Marggraff, Deutschlands jüngste pkl_152.034 Literatur- und Kulturepoche.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/178
Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/178>, abgerufen am 01.05.2024.