Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Noch ehe Goethe sich zum zweitenmal der Novelle zuwendete, hatte Kleist (1810-11) seine Erzählungen herausgegeben. Es ist schwer, diesem Dichter gerecht zu werden, von welchem man sich ebenso gewaltig angezogen als abgestoßen fühlen muß. Eine Gestaltungskraft, die über das Höchste, was wir besitzen, noch hinauszureichen scheint, die das Süßeste wie das Erschütterndste zu verkörpern weiß, und doch wie oft mitten in der herrlichsten Entfaltung ihre Schöpfungen mit einem widerwärtigen Querstrich vernichtet! Die Lösung des Räthsels ist, daß eine dunkle Fügung hier einen Genius von seltener Größe in ein krankes Gefäß eingeschlossen hat, das, obendrein durch unermüdlich grausame Lebensschicksale und tief empfundenes Unglück der Zeit aufgerieben, sich in einem unruhigen Schaffen bewegt, bei welchem Poesie und Irrsinn Hand in Hand gehen. Leider trifft dieses Urtheil in besonders starkem Grade die Erzählung "Michael Kohlhaas", die man vergebens in gegenwärtiger Sammlung suchen wird. In ihrer ersten Hälfte ein geradezu unerreichbares Muster von Erzählung, zumal einer Volksgeschichte, die, wenn in gleichem Geist und Guß vollendet, der weitesten Verbreitung als Volksbuch würdig wäre -- die Entwicklung (ein paar kleine in Ueberstürzung mitlaufende Unmöglichkeiten ausgenommen) der Natur selbst abgelauscht; der Vortrag künstlerisch einfach, knapp, so daß jedes Wort Noch ehe Goethe sich zum zweitenmal der Novelle zuwendete, hatte Kleist (1810-11) seine Erzählungen herausgegeben. Es ist schwer, diesem Dichter gerecht zu werden, von welchem man sich ebenso gewaltig angezogen als abgestoßen fühlen muß. Eine Gestaltungskraft, die über das Höchste, was wir besitzen, noch hinauszureichen scheint, die das Süßeste wie das Erschütterndste zu verkörpern weiß, und doch wie oft mitten in der herrlichsten Entfaltung ihre Schöpfungen mit einem widerwärtigen Querstrich vernichtet! Die Lösung des Räthsels ist, daß eine dunkle Fügung hier einen Genius von seltener Größe in ein krankes Gefäß eingeschlossen hat, das, obendrein durch unermüdlich grausame Lebensschicksale und tief empfundenes Unglück der Zeit aufgerieben, sich in einem unruhigen Schaffen bewegt, bei welchem Poesie und Irrsinn Hand in Hand gehen. Leider trifft dieses Urtheil in besonders starkem Grade die Erzählung „Michael Kohlhaas“, die man vergebens in gegenwärtiger Sammlung suchen wird. In ihrer ersten Hälfte ein geradezu unerreichbares Muster von Erzählung, zumal einer Volksgeschichte, die, wenn in gleichem Geist und Guß vollendet, der weitesten Verbreitung als Volksbuch würdig wäre — die Entwicklung (ein paar kleine in Ueberstürzung mitlaufende Unmöglichkeiten ausgenommen) der Natur selbst abgelauscht; der Vortrag künstlerisch einfach, knapp, so daß jedes Wort <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <pb facs="#f0006"/> <p>Noch ehe Goethe sich zum zweitenmal der Novelle zuwendete, hatte Kleist (1810-11) seine Erzählungen herausgegeben. Es ist schwer, diesem Dichter gerecht zu werden, von welchem man sich ebenso gewaltig angezogen als abgestoßen fühlen muß. Eine Gestaltungskraft, die über das Höchste, was wir besitzen, noch hinauszureichen scheint, die das Süßeste wie das Erschütterndste zu verkörpern weiß, und doch wie oft mitten in der herrlichsten Entfaltung ihre Schöpfungen mit einem widerwärtigen Querstrich vernichtet! Die Lösung des Räthsels ist, daß eine dunkle Fügung hier einen Genius von seltener Größe in ein krankes Gefäß eingeschlossen hat, das, obendrein durch unermüdlich grausame Lebensschicksale und tief empfundenes Unglück der Zeit aufgerieben, sich in einem unruhigen Schaffen bewegt, bei welchem Poesie und Irrsinn Hand in Hand gehen.</p><lb/> <p>Leider trifft dieses Urtheil in besonders starkem Grade die Erzählung „Michael Kohlhaas“, die man vergebens in gegenwärtiger Sammlung suchen wird. In ihrer ersten Hälfte ein geradezu unerreichbares Muster von Erzählung, zumal einer Volksgeschichte, die, wenn in gleichem Geist und Guß vollendet, der weitesten Verbreitung als Volksbuch würdig wäre — die Entwicklung (ein paar kleine in Ueberstürzung mitlaufende Unmöglichkeiten ausgenommen) der Natur selbst abgelauscht; der Vortrag künstlerisch einfach, knapp, so daß jedes Wort<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0006]
Noch ehe Goethe sich zum zweitenmal der Novelle zuwendete, hatte Kleist (1810-11) seine Erzählungen herausgegeben. Es ist schwer, diesem Dichter gerecht zu werden, von welchem man sich ebenso gewaltig angezogen als abgestoßen fühlen muß. Eine Gestaltungskraft, die über das Höchste, was wir besitzen, noch hinauszureichen scheint, die das Süßeste wie das Erschütterndste zu verkörpern weiß, und doch wie oft mitten in der herrlichsten Entfaltung ihre Schöpfungen mit einem widerwärtigen Querstrich vernichtet! Die Lösung des Räthsels ist, daß eine dunkle Fügung hier einen Genius von seltener Größe in ein krankes Gefäß eingeschlossen hat, das, obendrein durch unermüdlich grausame Lebensschicksale und tief empfundenes Unglück der Zeit aufgerieben, sich in einem unruhigen Schaffen bewegt, bei welchem Poesie und Irrsinn Hand in Hand gehen.
Leider trifft dieses Urtheil in besonders starkem Grade die Erzählung „Michael Kohlhaas“, die man vergebens in gegenwärtiger Sammlung suchen wird. In ihrer ersten Hälfte ein geradezu unerreichbares Muster von Erzählung, zumal einer Volksgeschichte, die, wenn in gleichem Geist und Guß vollendet, der weitesten Verbreitung als Volksbuch würdig wäre — die Entwicklung (ein paar kleine in Ueberstürzung mitlaufende Unmöglichkeiten ausgenommen) der Natur selbst abgelauscht; der Vortrag künstlerisch einfach, knapp, so daß jedes Wort
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T13:20:21Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T13:20:21Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |