Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite

Vierter Gesang.

Da die Unsterblichen deine Geburt im Triumphe besangen!
Wenn ich dir jemals bin theuer gewesen, und wenn du dran denkest,
Wie du mit kindlicher Huld der Mutter Freude belohntest,
Als ich nach bangem Suchen dich fand; an der heiligen Stätte,
Unter den Priestern, die dich mit stummer Bewunderung ansahn!
Wie ich jauchzend, mit offenen Armen, entgegen dir eilte,
Tempel und Lehrer nicht sah, nur dich ans Herze gedrückt hielt,
Und anbetend mein Auge, zu dem, der ewig ist, aufhub!
Ach, um dieser himmlischen Freude, der Ewigkeit Vorschmack!
Aber du blickst mich nicht an! .. Um deiner Menschlichkeit willen,
Durch die du jeden begnadigst! Um jener Entschlafenen willen,
Die du auferweckt hast! Erbarme dich meiner, und lebe!
Also spricht sie, und eilt. So fliegt ein großer Gedanke
Feurig gen Himmel empor zu dem, von dem er gedacht war.
Und der ewige Sohn sah seine Mutter dahergehn,
Nicht mit dem menschlichen Auge; mit jenem Auge, mit dem er
Jedes Wurmes Geburt, den Staub, auf welchem er wohnet,
Den, wo sein Leben verfliegt, und des Seraphs Gedanken, vorhersieht.
Ach, ich will mich deiner erbarmen! Noch mehr, als die Mutter
Eines Sohns sich erbarmet, will ich mich deiner erbarmen,
Wenn ich auferweckt bin! So dacht er bey sich, und nahm drauf
Einen anderen Weg. Die Abenddämmerung kam itzt.
Alle schwiegen um ihn, auch die ungesehnen Begleiter.
Also giengen sie still, und kamen mit langsamen Schritte
An den Hügel, der Golgatha heißt. Nicht fern von dem Hügel
War ein einsames Grab in hangende Felsen gehauen.
Noch kein Todter verweste daselbst. Hier wollte der Weise,

Joseph
J 5

Vierter Geſang.

Da die Unſterblichen deine Geburt im Triumphe beſangen!
Wenn ich dir jemals bin theuer geweſen, und wenn du dran denkeſt,
Wie du mit kindlicher Huld der Mutter Freude belohnteſt,
Als ich nach bangem Suchen dich fand; an der heiligen Staͤtte,
Unter den Prieſtern, die dich mit ſtummer Bewunderung anſahn!
Wie ich jauchzend, mit offenen Armen, entgegen dir eilte,
Tempel und Lehrer nicht ſah, nur dich ans Herze gedruͤckt hielt,
Und anbetend mein Auge, zu dem, der ewig iſt, aufhub!
Ach, um dieſer himmliſchen Freude, der Ewigkeit Vorſchmack!
Aber du blickſt mich nicht an! .. Um deiner Menſchlichkeit willen,
Durch die du jeden begnadigſt! Um jener Entſchlafenen willen,
Die du auferweckt haſt! Erbarme dich meiner, und lebe!
Alſo ſpricht ſie, und eilt. So fliegt ein großer Gedanke
Feurig gen Himmel empor zu dem, von dem er gedacht war.
Und der ewige Sohn ſah ſeine Mutter dahergehn,
Nicht mit dem menſchlichen Auge; mit jenem Auge, mit dem er
Jedes Wurmes Geburt, den Staub, auf welchem er wohnet,
Den, wo ſein Leben verfliegt, und des Seraphs Gedanken, vorherſieht.
Ach, ich will mich deiner erbarmen! Noch mehr, als die Mutter
Eines Sohns ſich erbarmet, will ich mich deiner erbarmen,
Wenn ich auferweckt bin! So dacht er bey ſich, und nahm drauf
Einen anderen Weg. Die Abenddaͤmmerung kam itzt.
Alle ſchwiegen um ihn, auch die ungeſehnen Begleiter.
Alſo giengen ſie ſtill, und kamen mit langſamen Schritte
An den Huͤgel, der Golgatha heißt. Nicht fern von dem Huͤgel
War ein einſames Grab in hangende Felſen gehauen.
Noch kein Todter verweſte daſelbſt. Hier wollte der Weiſe,

Joſeph
J 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="4">
              <l>
                <pb facs="#f0149" n="137"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Vierter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw>
              </l><lb/>
              <l>Da die Un&#x017F;terblichen deine Geburt im Triumphe be&#x017F;angen!</l><lb/>
              <l>Wenn ich dir jemals bin theuer gewe&#x017F;en, und wenn du dran denke&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>Wie du mit kindlicher Huld der Mutter Freude belohnte&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>Als ich nach bangem Suchen dich fand; an der heiligen Sta&#x0364;tte,</l><lb/>
              <l>Unter den Prie&#x017F;tern, die dich mit &#x017F;tummer Bewunderung an&#x017F;ahn!</l><lb/>
              <l>Wie ich jauchzend, mit offenen Armen, entgegen dir eilte,</l><lb/>
              <l>Tempel und Lehrer nicht &#x017F;ah, nur dich ans Herze gedru&#x0364;ckt hielt,</l><lb/>
              <l>Und anbetend mein Auge, zu dem, der ewig i&#x017F;t, aufhub!</l><lb/>
              <l>Ach, um die&#x017F;er himmli&#x017F;chen Freude, der Ewigkeit Vor&#x017F;chmack!</l><lb/>
              <l>Aber du blick&#x017F;t mich nicht an! .. Um deiner Men&#x017F;chlichkeit willen,</l><lb/>
              <l>Durch die du jeden begnadig&#x017F;t! Um jener Ent&#x017F;chlafenen willen,</l><lb/>
              <l>Die du auferweckt ha&#x017F;t! Erbarme dich meiner, und lebe!</l><lb/>
              <l>Al&#x017F;o &#x017F;pricht &#x017F;ie, und eilt. So fliegt ein großer Gedanke</l><lb/>
              <l>Feurig gen Himmel empor zu dem, von dem er gedacht war.</l><lb/>
              <l>Und der ewige Sohn &#x017F;ah &#x017F;eine Mutter dahergehn,</l><lb/>
              <l>Nicht mit dem men&#x017F;chlichen Auge; mit jenem Auge, mit dem er</l><lb/>
              <l>Jedes Wurmes Geburt, den Staub, auf welchem er wohnet,</l><lb/>
              <l>Den, wo &#x017F;ein Leben verfliegt, und des Seraphs Gedanken, vorher&#x017F;ieht.</l><lb/>
              <l>Ach, ich will mich deiner erbarmen! Noch mehr, als die Mutter</l><lb/>
              <l>Eines Sohns &#x017F;ich erbarmet, will ich mich deiner erbarmen,</l><lb/>
              <l>Wenn ich auferweckt bin! So dacht er bey &#x017F;ich, und nahm drauf</l><lb/>
              <l>Einen anderen Weg. Die Abendda&#x0364;mmerung kam itzt.</l><lb/>
              <l>Alle &#x017F;chwiegen um ihn, auch die unge&#x017F;ehnen Begleiter.</l><lb/>
              <l>Al&#x017F;o giengen &#x017F;ie &#x017F;till, und kamen mit lang&#x017F;amen Schritte</l><lb/>
              <l>An den Hu&#x0364;gel, der Golgatha heißt. Nicht fern von dem Hu&#x0364;gel</l><lb/>
              <l>War ein ein&#x017F;ames Grab in hangende Fel&#x017F;en gehauen.</l><lb/>
              <l>Noch kein Todter verwe&#x017F;te da&#x017F;elb&#x017F;t. Hier wollte der Wei&#x017F;e,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Jo&#x017F;eph</fw><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0149] Vierter Geſang. Da die Unſterblichen deine Geburt im Triumphe beſangen! Wenn ich dir jemals bin theuer geweſen, und wenn du dran denkeſt, Wie du mit kindlicher Huld der Mutter Freude belohnteſt, Als ich nach bangem Suchen dich fand; an der heiligen Staͤtte, Unter den Prieſtern, die dich mit ſtummer Bewunderung anſahn! Wie ich jauchzend, mit offenen Armen, entgegen dir eilte, Tempel und Lehrer nicht ſah, nur dich ans Herze gedruͤckt hielt, Und anbetend mein Auge, zu dem, der ewig iſt, aufhub! Ach, um dieſer himmliſchen Freude, der Ewigkeit Vorſchmack! Aber du blickſt mich nicht an! .. Um deiner Menſchlichkeit willen, Durch die du jeden begnadigſt! Um jener Entſchlafenen willen, Die du auferweckt haſt! Erbarme dich meiner, und lebe! Alſo ſpricht ſie, und eilt. So fliegt ein großer Gedanke Feurig gen Himmel empor zu dem, von dem er gedacht war. Und der ewige Sohn ſah ſeine Mutter dahergehn, Nicht mit dem menſchlichen Auge; mit jenem Auge, mit dem er Jedes Wurmes Geburt, den Staub, auf welchem er wohnet, Den, wo ſein Leben verfliegt, und des Seraphs Gedanken, vorherſieht. Ach, ich will mich deiner erbarmen! Noch mehr, als die Mutter Eines Sohns ſich erbarmet, will ich mich deiner erbarmen, Wenn ich auferweckt bin! So dacht er bey ſich, und nahm drauf Einen anderen Weg. Die Abenddaͤmmerung kam itzt. Alle ſchwiegen um ihn, auch die ungeſehnen Begleiter. Alſo giengen ſie ſtill, und kamen mit langſamen Schritte An den Huͤgel, der Golgatha heißt. Nicht fern von dem Huͤgel War ein einſames Grab in hangende Felſen gehauen. Noch kein Todter verweſte daſelbſt. Hier wollte der Weiſe, Joſeph J 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/149
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/149>, abgerufen am 21.11.2024.