[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751.
Jn L 2
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<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="4"> <l> <pb facs="#f0175" n="163"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Fuͤnfter Geſang.</hi> </fw> </l><lb/> <l>Die es, was ich kaum denken kann, wagten, dich, Gott, zu erzuͤrnen!</l><lb/> <l>Hoͤrt, verſammelte Kinder, mir zu! Jch verſchwieg es euch lange,</l><lb/> <l>Eure ſelige Ruh durch keine Wehmut zu ſtoͤren.</l><lb/> <l>Ferne von uns, auf einer der Erden, ſind Menſchen, wie wir ſind,</l><lb/> <l>Nach der Bildung; allein der anerſchaffenen Unſchuld</l><lb/> <l>Und des goͤttlichen Bildes beraubt, nicht unſterbliche Menſchen!</l><lb/> <l>Jhr erſtaunt, und faſſet das nicht, wie ſterblich der ſeyn kann,</l><lb/> <l>Der, unſterblich erſchaffen, ein Meiſterſtuͤck Gottes vorher war!</l><lb/> <l>Nicht ihr Geiſt iſt ſterblich, der ewige Geiſt nicht: Der Leib nur</l><lb/> <l>Wird zur Erde, woraus er gemacht war. Das nennen ſie, Sterben.</l><lb/> <l>Seiner Schoͤnheit beraubt, der anerſchaffenen Unſchuld,</l><lb/> <l>Tritt alsdann der fliehende Geiſt vor den Richterſtul Gottes,</l><lb/> <l>Und hoͤrt ein erſchreckliches Urtheil. Doch, ernſter Gedanke!</l><lb/> <l>Fleuch! Dich denke nur Gott, der Weſen Schoͤpfer und Richter!</l><lb/> <l>Das iſt ſchon ſchrecklich genung fuͤr einen Unſterblichen, Sterben!</l><lb/> <l>Das zu denken. Dem Sterbenden brechen die Augen, und ſtarren,</l><lb/> <l>Sehen nicht mehr. Jhm ſchwindet das Antlitz der Erd und des Himmels</l><lb/> <l>Tief in die Nacht. Er hoͤret nicht mehr die Stimme des Menſchen.</l><lb/> <l>Noch der Freundſchaft zaͤrtliche Klagen. Er ſelbſt kann nicht reden,</l><lb/> <l>Und mit bebender Zunge den bangen Abſchied kaum ſtammeln,</l><lb/> <l>Athmet tiefer herauf! Ein kalter aͤngſtlicher Schweiß laͤuft</l><lb/> <l>Ueber ſein Antlitz, das Herz ſchlaͤgt langſam, dann ſtehts, dann ſtirbt er.</l><lb/> <l>Jn dem Arme der liebenden Mutter, die gern mit ihr ſtuͤrbe,</l><lb/> <l>Und nicht ſterben kann, ſtirbt die Tochter. Umfaßt von dem Vater,</l><lb/> <l>Und an ſein Herze gedruͤckt, ſtirbt ein aufbluͤhender Juͤngling,</l><lb/> <l>Seines Vaters einziger Sohn. Vor jammernden Kindern</l><lb/> <l>Sterben Aeltern, ihr Troſt, und die Stuͤtze der wankenden Jahre.<lb/> <fw place="bottom" type="sig">L 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Jn</fw><lb/></l> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [163/0175]
Fuͤnfter Geſang.
Die es, was ich kaum denken kann, wagten, dich, Gott, zu erzuͤrnen!
Hoͤrt, verſammelte Kinder, mir zu! Jch verſchwieg es euch lange,
Eure ſelige Ruh durch keine Wehmut zu ſtoͤren.
Ferne von uns, auf einer der Erden, ſind Menſchen, wie wir ſind,
Nach der Bildung; allein der anerſchaffenen Unſchuld
Und des goͤttlichen Bildes beraubt, nicht unſterbliche Menſchen!
Jhr erſtaunt, und faſſet das nicht, wie ſterblich der ſeyn kann,
Der, unſterblich erſchaffen, ein Meiſterſtuͤck Gottes vorher war!
Nicht ihr Geiſt iſt ſterblich, der ewige Geiſt nicht: Der Leib nur
Wird zur Erde, woraus er gemacht war. Das nennen ſie, Sterben.
Seiner Schoͤnheit beraubt, der anerſchaffenen Unſchuld,
Tritt alsdann der fliehende Geiſt vor den Richterſtul Gottes,
Und hoͤrt ein erſchreckliches Urtheil. Doch, ernſter Gedanke!
Fleuch! Dich denke nur Gott, der Weſen Schoͤpfer und Richter!
Das iſt ſchon ſchrecklich genung fuͤr einen Unſterblichen, Sterben!
Das zu denken. Dem Sterbenden brechen die Augen, und ſtarren,
Sehen nicht mehr. Jhm ſchwindet das Antlitz der Erd und des Himmels
Tief in die Nacht. Er hoͤret nicht mehr die Stimme des Menſchen.
Noch der Freundſchaft zaͤrtliche Klagen. Er ſelbſt kann nicht reden,
Und mit bebender Zunge den bangen Abſchied kaum ſtammeln,
Athmet tiefer herauf! Ein kalter aͤngſtlicher Schweiß laͤuft
Ueber ſein Antlitz, das Herz ſchlaͤgt langſam, dann ſtehts, dann ſtirbt er.
Jn dem Arme der liebenden Mutter, die gern mit ihr ſtuͤrbe,
Und nicht ſterben kann, ſtirbt die Tochter. Umfaßt von dem Vater,
Und an ſein Herze gedruͤckt, ſtirbt ein aufbluͤhender Juͤngling,
Seines Vaters einziger Sohn. Vor jammernden Kindern
Sterben Aeltern, ihr Troſt, und die Stuͤtze der wankenden Jahre.
Jn
L 2
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