Grab begleiten; nur noch wenige Schritte, und ich hab' vollendet.
Jch. Das Schiksal hat euch wol wenige frohe Tage zugezälet?
Greis. Der frohen Tage wenig, aber der traurigen desto mehr. Als Knabe fühlte ich, was Leben sei, aber schon als Jüngling und Mann kettete sich ein Unglük neben das andere, so daß ich sogar das Bewustsein verlor, einst glüklich gewesen zu sein.
Glauben sie mir, ich verdiene das bittere Loos nicht, unter dem sich mein grauer Schedel beugen muß; zwar nur Lumpen bedekken dieses verfallene Gerippe, aber unter diesen Lumpen schlägt ein Herz, das einst wärmer schlug, und hoch empor braußte.
Jch. Jhr werdet so beweglich, würdiger Greis! daß ich euch bitten muß, mir eure Ge- schichte zu enträthseln; sie kann lehrreich für mich sein -- wird es gewis aus eurem Munde werden.
Greis. Wozu das junger Mann? warum soll ich Wunden aufreissen, die sich schon ver- blutet haben, und die doch niemand heilen kann?
S
Grab begleiten; nur noch wenige Schritte, und ich hab’ vollendet.
Jch. Das Schikſal hat euch wol wenige frohe Tage zugezaͤlet?
Greis. Der frohen Tage wenig, aber der traurigen deſto mehr. Als Knabe fuͤhlte ich, was Leben ſei, aber ſchon als Juͤngling und Mann kettete ſich ein Ungluͤk neben das andere, ſo daß ich ſogar das Bewuſtſein verlor, einſt gluͤklich geweſen zu ſein.
Glauben ſie mir, ich verdiene das bittere Loos nicht, unter dem ſich mein grauer Schedel beugen muß; zwar nur Lumpen bedekken dieſes verfallene Gerippe, aber unter dieſen Lumpen ſchlaͤgt ein Herz, das einſt waͤrmer ſchlug, und hoch empor braußte.
Jch. Jhr werdet ſo beweglich, wuͤrdiger Greis! daß ich euch bitten muß, mir eure Ge- ſchichte zu entraͤthſeln; ſie kann lehrreich fuͤr mich ſein — wird es gewis aus eurem Munde werden.
Greis. Wozu das junger Mann? warum ſoll ich Wunden aufreiſſen, die ſich ſchon ver- blutet haben, und die doch niemand heilen kann?
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Grab begleiten; nur noch wenige Schritte, und
ich hab’ vollendet.
Jch. Das Schikſal hat euch wol wenige
frohe Tage zugezaͤlet?
Greis. Der frohen Tage wenig, aber der
traurigen deſto mehr. Als Knabe fuͤhlte ich,
was Leben ſei, aber ſchon als Juͤngling und
Mann kettete ſich ein Ungluͤk neben das andere,
ſo daß ich ſogar das Bewuſtſein verlor, einſt
gluͤklich geweſen zu ſein.
Glauben ſie mir, ich verdiene das bittere
Loos nicht, unter dem ſich mein grauer Schedel
beugen muß; zwar nur Lumpen bedekken dieſes
verfallene Gerippe, aber unter dieſen Lumpen
ſchlaͤgt ein Herz, das einſt waͤrmer ſchlug, und
hoch empor braußte.
Jch. Jhr werdet ſo beweglich, wuͤrdiger
Greis! daß ich euch bitten muß, mir eure Ge-
ſchichte zu entraͤthſeln; ſie kann lehrreich fuͤr
mich ſein — wird es gewis aus eurem Munde
werden.
Greis. Wozu das junger Mann? warum
ſoll ich Wunden aufreiſſen, die ſich ſchon ver-
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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/281>, abgerufen am 21.06.2024.
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