Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.pko_019.001 pko_019.003 pko_019.018 pko_019.019 4. Antithese (von griech. anthithesis "Gegensatz"), in der zwei entgegengestellte pko_019.020 pko_019.001 pko_019.003 pko_019.018 pko_019.019 4. Antithése (von griech. anthíthesis „Gegensatz“), in der zwei entgegengestellte pko_019.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0023" n="19"/><lb n="pko_019.001"/> Vorsicht ein Satz nicht zu Ende gedruckt ist, wie etwa bei Goethe in <lb n="pko_019.002"/> Götzens Antwort an den kaiserlichen Parlamentär.</p> <p><lb n="pko_019.003"/> Verwandt mit der Ellipse ist der Fügungsbruch, das <hi rendition="#i">Anakolúth</hi> (griech. <lb n="pko_019.004"/> „Unfolge“). Das Herausfallen aus der Satzkonstruktion kennzeichnet in <lb n="pko_019.005"/> der Alltagsrede den ungebildeten, aber auch den aufgeregten Menschen; <lb n="pko_019.006"/> in der lebhaften Rede des Dichters, wo Eindrücke und Ausdrucksformen <lb n="pko_019.007"/> sich drängen und verdrängen, wird die Figur kunstvoll verwendet, um <lb n="pko_019.008"/> dem zweiten Teil des Satzes, der die Konstruktion in anderer Art fortsetzt, <lb n="pko_019.009"/> als sie angefangen wurde, mehr Nachdruck zu verleihen. Beispiele: <lb n="pko_019.010"/> „Ein Herr, der zu Lügen Lust hat, des Diener sind alle gottlos“ <lb n="pko_019.011"/> (Luther); „Mich kann das, Leonore, wenig rühren, / Wenn ich bedenke, / <lb n="pko_019.012"/> wie man wenig ist, / Und was man ist, das blieb man andern schuldig“ <lb n="pko_019.013"/> (Goethe: Tasso); „Ich habe gefunden, sagte Serlo, daß, so leicht man <lb n="pko_019.014"/> der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann, so gerne sie sich <lb n="pko_019.015"/> Märchen erzählen lassen, eben so selten ist eine Art von produktiver <lb n="pko_019.016"/> Einbildungskraft bei ihnen zu finden“ (Goethe: Wilh. Meisters Lehrjahre).</p> <lb n="pko_019.017"/> <p><lb n="pko_019.018"/> Die emphatische Hervorhebung ist auch der eigentliche Sinn der</p> </div> <div n="5"> <lb n="pko_019.019"/> <head>4. <hi rendition="#i">Antithése</hi></head> <p> (von griech. anthíthesis „Gegensatz“), in der zwei entgegengestellte <lb n="pko_019.020"/> Begriffe einander in der Prägnanz verstärken. Sie ist ein <lb n="pko_019.021"/> technisches Mittel, das alle Künste zur Wirkungssteigerung verwenden; <lb n="pko_019.022"/> der Musiker erhöht den Reiz des Wohlklangs durch eingestreute Dissonanzen, <lb n="pko_019.023"/> der Zeichner setzt schwarze Kontur auf das weiße Blatt, <lb n="pko_019.024"/> um durch den Helligkeitskontrast die Deutlichkeit des Umrisses zu <lb n="pko_019.025"/> heben. Von allen Redefiguren der Dichtersprache ist die Antithese am <lb n="pko_019.026"/> völligsten dem Bereich des Verstandes, der Logik zugehörig; daher <lb n="pko_019.027"/> findet sie sich am häufigsten und gehäuft bei philosophischen Dichtern. <lb n="pko_019.028"/> So ist etwa der Stil Schillers aus lauter Antithesen zusammengeschichtet; <lb n="pko_019.029"/> bisweilen stapelt er sie an einer einzigen Stelle zu ganzen Pyramiden <lb n="pko_019.030"/> auf; z. B. in „Wallensteins Tod“ II 2: „Eng ist die Welt, und das <lb n="pko_019.031"/> Gehirn ist weit; / Leicht bei einander wohnen die Gedanken, / Doch <lb n="pko_019.032"/> hart im Raume stoßen sich die Sachen; / Wo Eines Platz nimmt, muß <lb n="pko_019.033"/> das Andre rücken; / Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben“. <lb n="pko_019.034"/> Auch der Alltag kennt die Antithese: „Du lachst, ich weine“; „Heute <lb n="pko_019.035"/> rot, morgen tot“; „Lange Haare, kurzer Verstand“. Steigert sich der <lb n="pko_019.036"/> Gegensatz zu scheinbarer Unverträglichkeit der Begriffe, die aber durch <lb n="pko_019.037"/> einen übergreifenden Gedanken zu vertiefter Einheit zusammengefaßt <lb n="pko_019.038"/> werden, so ergibt sich das <hi rendition="#i">Parádoxon</hi> (griech. „wider den Schein“): </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0023]
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Vorsicht ein Satz nicht zu Ende gedruckt ist, wie etwa bei Goethe in pko_019.002
Götzens Antwort an den kaiserlichen Parlamentär.
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Verwandt mit der Ellipse ist der Fügungsbruch, das Anakolúth (griech. pko_019.004
„Unfolge“). Das Herausfallen aus der Satzkonstruktion kennzeichnet in pko_019.005
der Alltagsrede den ungebildeten, aber auch den aufgeregten Menschen; pko_019.006
in der lebhaften Rede des Dichters, wo Eindrücke und Ausdrucksformen pko_019.007
sich drängen und verdrängen, wird die Figur kunstvoll verwendet, um pko_019.008
dem zweiten Teil des Satzes, der die Konstruktion in anderer Art fortsetzt, pko_019.009
als sie angefangen wurde, mehr Nachdruck zu verleihen. Beispiele: pko_019.010
„Ein Herr, der zu Lügen Lust hat, des Diener sind alle gottlos“ pko_019.011
(Luther); „Mich kann das, Leonore, wenig rühren, / Wenn ich bedenke, / pko_019.012
wie man wenig ist, / Und was man ist, das blieb man andern schuldig“ pko_019.013
(Goethe: Tasso); „Ich habe gefunden, sagte Serlo, daß, so leicht man pko_019.014
der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann, so gerne sie sich pko_019.015
Märchen erzählen lassen, eben so selten ist eine Art von produktiver pko_019.016
Einbildungskraft bei ihnen zu finden“ (Goethe: Wilh. Meisters Lehrjahre).
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Die emphatische Hervorhebung ist auch der eigentliche Sinn der
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4. Antithése (von griech. anthíthesis „Gegensatz“), in der zwei entgegengestellte pko_019.020
Begriffe einander in der Prägnanz verstärken. Sie ist ein pko_019.021
technisches Mittel, das alle Künste zur Wirkungssteigerung verwenden; pko_019.022
der Musiker erhöht den Reiz des Wohlklangs durch eingestreute Dissonanzen, pko_019.023
der Zeichner setzt schwarze Kontur auf das weiße Blatt, pko_019.024
um durch den Helligkeitskontrast die Deutlichkeit des Umrisses zu pko_019.025
heben. Von allen Redefiguren der Dichtersprache ist die Antithese am pko_019.026
völligsten dem Bereich des Verstandes, der Logik zugehörig; daher pko_019.027
findet sie sich am häufigsten und gehäuft bei philosophischen Dichtern. pko_019.028
So ist etwa der Stil Schillers aus lauter Antithesen zusammengeschichtet; pko_019.029
bisweilen stapelt er sie an einer einzigen Stelle zu ganzen Pyramiden pko_019.030
auf; z. B. in „Wallensteins Tod“ II 2: „Eng ist die Welt, und das pko_019.031
Gehirn ist weit; / Leicht bei einander wohnen die Gedanken, / Doch pko_019.032
hart im Raume stoßen sich die Sachen; / Wo Eines Platz nimmt, muß pko_019.033
das Andre rücken; / Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben“. pko_019.034
Auch der Alltag kennt die Antithese: „Du lachst, ich weine“; „Heute pko_019.035
rot, morgen tot“; „Lange Haare, kurzer Verstand“. Steigert sich der pko_019.036
Gegensatz zu scheinbarer Unverträglichkeit der Begriffe, die aber durch pko_019.037
einen übergreifenden Gedanken zu vertiefter Einheit zusammengefaßt pko_019.038
werden, so ergibt sich das Parádoxon (griech. „wider den Schein“):
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