Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.pko_020.001 pko_020.004 pko_020.001 pko_020.004 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0024" n="20"/><lb n="pko_020.001"/> „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit“ (Schiller: Wallenstein); <lb n="pko_020.002"/> „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu <lb n="pko_020.003"/> besitzen“ (Goethe: Faust); „das Billigste ist das Teuerste“.</p> <p><lb n="pko_020.004"/> Die Verbindung von scheinbar einander widersprechenden Worten, <lb n="pko_020.005"/> der aber eine paradoxe Wirklichkeit den Widerspruch benimmt, wird <lb n="pko_020.006"/> als <hi rendition="#i">Oxýmōron</hi> (griech. „spitzige Torheit“) bezeichnet: „junger Greis“; <lb n="pko_020.007"/> „König ohne Land“; „die armen Reichen“; „der weise Narr“; „beredtes <lb n="pko_020.008"/> Schweigen“. Besonders beliebt ist diese Figur bei Dichtern, die an den <lb n="pko_020.009"/> inneren Konflikten und Gegensätzen unharmonischer Übergangszeiten <lb n="pko_020.010"/> oder gebrochener Persönlichkeit leiden (Seneca, Hebbel, V. Hugo). <lb n="pko_020.011"/> Bei Goethe sind die beliebten Oxymora („bewußte Bewußtlosigkeit“, <lb n="pko_020.012"/> „wüste Fruchtbarkeit“ [nämlich der sizilischen Getreidefelder], „gesetzmäßig-frei“, <lb n="pko_020.013"/> „Du übersinnlich-sinnlicher Freier“) Ausdruck einer Weltschau, <lb n="pko_020.014"/> die widerstrebende Kräfte als polare Manifestationen einer <lb n="pko_020.015"/> inneren Einheit wahrnimmt; bei Heine („schmutzige Reinheit“, <lb n="pko_020.016"/> „kichernde Tränen“, „jauchzender Schmerz“, „betrunken nüchterne Gesichter“, <lb n="pko_020.017"/> „lebenssüchtige Todesbegeisterung“) berufen sie die Ambivalenz <lb n="pko_020.018"/> alles Irdischen und Menschlichen, hüllen die Dinge in ein <lb n="pko_020.019"/> schmerzliches Zwielicht sowohl des Tragischen wie des Komischen. <lb n="pko_020.020"/> Weitere Beispiele: „O viva morte, o dilettoso male“ (Petrarca: Sonett <lb n="pko_020.021"/> CII; Förster verdeutscht: O freudenreiches Weh, o Tod voll Leben); <lb n="pko_020.022"/> „Feather of lead, bright smoke, cold fire, sick health“ (Shakespeare: <lb n="pko_020.023"/> Romeo and Juliet I 1; Schlegel übersetzt: Bleischwinge! Lichter Rauch <lb n="pko_020.024"/> und kalte Glut!); „die ungesellige Geselligkeit der Menschen“ (Kant); <lb n="pko_020.025"/> „pikante Geschmacklosigkeit“ (Jean Paul); Schiller gefällt sich in der <lb n="pko_020.026"/> Häufung so krasser Stilfigur: „Diesem komisch-tragischen Gewühl, / ... <lb n="pko_020.027"/> / Diesem faulen fleißigen Gewimmel, / Dieser arbeitsvollen Ruh', / <lb n="pko_020.028"/> Bruder! — diesem teufelvollen Himmel / Schloß Dein Auge sich auf <lb n="pko_020.029"/> ewig zu“ (Elegie auf den Tod eines Jünglings).</p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0024]
pko_020.001
„Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit“ (Schiller: Wallenstein); pko_020.002
„Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu pko_020.003
besitzen“ (Goethe: Faust); „das Billigste ist das Teuerste“.
pko_020.004
Die Verbindung von scheinbar einander widersprechenden Worten, pko_020.005
der aber eine paradoxe Wirklichkeit den Widerspruch benimmt, wird pko_020.006
als Oxýmōron (griech. „spitzige Torheit“) bezeichnet: „junger Greis“; pko_020.007
„König ohne Land“; „die armen Reichen“; „der weise Narr“; „beredtes pko_020.008
Schweigen“. Besonders beliebt ist diese Figur bei Dichtern, die an den pko_020.009
inneren Konflikten und Gegensätzen unharmonischer Übergangszeiten pko_020.010
oder gebrochener Persönlichkeit leiden (Seneca, Hebbel, V. Hugo). pko_020.011
Bei Goethe sind die beliebten Oxymora („bewußte Bewußtlosigkeit“, pko_020.012
„wüste Fruchtbarkeit“ [nämlich der sizilischen Getreidefelder], „gesetzmäßig-frei“, pko_020.013
„Du übersinnlich-sinnlicher Freier“) Ausdruck einer Weltschau, pko_020.014
die widerstrebende Kräfte als polare Manifestationen einer pko_020.015
inneren Einheit wahrnimmt; bei Heine („schmutzige Reinheit“, pko_020.016
„kichernde Tränen“, „jauchzender Schmerz“, „betrunken nüchterne Gesichter“, pko_020.017
„lebenssüchtige Todesbegeisterung“) berufen sie die Ambivalenz pko_020.018
alles Irdischen und Menschlichen, hüllen die Dinge in ein pko_020.019
schmerzliches Zwielicht sowohl des Tragischen wie des Komischen. pko_020.020
Weitere Beispiele: „O viva morte, o dilettoso male“ (Petrarca: Sonett pko_020.021
CII; Förster verdeutscht: O freudenreiches Weh, o Tod voll Leben); pko_020.022
„Feather of lead, bright smoke, cold fire, sick health“ (Shakespeare: pko_020.023
Romeo and Juliet I 1; Schlegel übersetzt: Bleischwinge! Lichter Rauch pko_020.024
und kalte Glut!); „die ungesellige Geselligkeit der Menschen“ (Kant); pko_020.025
„pikante Geschmacklosigkeit“ (Jean Paul); Schiller gefällt sich in der pko_020.026
Häufung so krasser Stilfigur: „Diesem komisch-tragischen Gewühl, / ... pko_020.027
/ Diesem faulen fleißigen Gewimmel, / Dieser arbeitsvollen Ruh', / pko_020.028
Bruder! — diesem teufelvollen Himmel / Schloß Dein Auge sich auf pko_020.029
ewig zu“ (Elegie auf den Tod eines Jünglings).
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |