Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949. pko_021.001 II. PROSODIK. pko_021.002 1) pko_021.027 Der Ursprung des Rhythmus wird wohl in dem (symmetrischen) Bau und den pko_021.028 periodischen (Herz- und Atem-)Bewegungen des menschlichen Körpers zu suchen pko_021.029 sein; von hier geht die allgemeine Tendenz zur Rhythmisierung sämtlicher Bewegungen pko_021.030 und Tätigkeiten (Marsch, Tanz, Rudern, Schmieden, überhaupt aller pko_021.031 regelmäßigen Arbeitsverrichtungen) aus; wahrscheinlich ist das gesamte Dasein pko_021.032 und Universum rhythmisch organisiert (Ebbe und Flut, Tages- und Jahreszeiten, pko_021.033 Gestirnbewegung). 2) pko_021.034
Vgl. die ähnlichen Äußerungen Schillers über seine poetische Produktion: "Das pko_021.035 Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich pko_021.036 hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff von Inhalt" (an Körner 25. Mai pko_021.037 1792); "bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; pko_021.038 dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung pko_021.039 geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee" (an Goethe pko_021.040 18. März 1796). pko_021.001 II. PROSODIK. pko_021.002 1) pko_021.027 Der Ursprung des Rhythmus wird wohl in dem (symmetrischen) Bau und den pko_021.028 periodischen (Herz- und Atem-)Bewegungen des menschlichen Körpers zu suchen pko_021.029 sein; von hier geht die allgemeine Tendenz zur Rhythmisierung sämtlicher Bewegungen pko_021.030 und Tätigkeiten (Marsch, Tanz, Rudern, Schmieden, überhaupt aller pko_021.031 regelmäßigen Arbeitsverrichtungen) aus; wahrscheinlich ist das gesamte Dasein pko_021.032 und Universum rhythmisch organisiert (Ebbe und Flut, Tages- und Jahreszeiten, pko_021.033 Gestirnbewegung). 2) pko_021.034
Vgl. die ähnlichen Äußerungen Schillers über seine poetische Produktion: „Das pko_021.035 Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich pko_021.036 hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff von Inhalt“ (an Körner 25. Mai pko_021.037 1792); „bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; pko_021.038 dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung pko_021.039 geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee“ (an Goethe pko_021.040 18. März 1796). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0025" n="21"/> </div> </div> </div> <div n="3"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pko_021.001"/> II. <hi rendition="#g">PROSODIK.</hi></hi> </head> <p><lb n="pko_021.002"/> Die akustischen (klanglichen) Elemente der Sprache kommen in Vers <lb n="pko_021.003"/> und Prosa gleichermaßen zur Geltung; das Unterscheidende liegt allein <lb n="pko_021.004"/> darin, daß jene Elemente im Vers festen Gesetzen unterworfen werden <lb n="pko_021.005"/> (gebundene Rede), während sie in der Prosa mehr oder weniger frei <lb n="pko_021.006"/> bleiben (ungebundene Rede). Wenn jede systematische Gliederung sinnlich <lb n="pko_021.007"/> wahrnehmbarer Vorgänge, die durch Abstufung der Schwere- <lb n="pko_021.008"/> Elemente und Abstandszeiten sowie durch ordnende Zusammenfassung <lb n="pko_021.009"/> der Glieder erfolgt, <hi rendition="#i">Rhythmus</hi><note xml:id="PKO_021_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_021.027"/> Der Ursprung des Rhythmus wird wohl in dem (symmetrischen) Bau und den <lb n="pko_021.028"/> periodischen (Herz- und Atem-)Bewegungen des menschlichen Körpers zu suchen <lb n="pko_021.029"/> sein; von hier geht die allgemeine Tendenz zur Rhythmisierung sämtlicher Bewegungen <lb n="pko_021.030"/> und Tätigkeiten (Marsch, Tanz, Rudern, Schmieden, überhaupt aller <lb n="pko_021.031"/> regelmäßigen Arbeitsverrichtungen) aus; wahrscheinlich ist das gesamte Dasein <lb n="pko_021.032"/> und Universum rhythmisch organisiert (Ebbe und Flut, Tages- und Jahreszeiten, <lb n="pko_021.033"/> Gestirnbewegung).</note> (griech. „gleichmäßige Bewegung“) <lb n="pko_021.010"/> genannt werden kann, so eignet er auch aller in künstlerischen Absichten <lb n="pko_021.011"/> und Wirkungen sich ergehenden Prosa. Nur daß er hier minder bewußt, <lb n="pko_021.012"/> minder willkürlich hervorgebracht wird als in der, vorgegebenen Gesetzen <lb n="pko_021.013"/> gehorsamen, gebundenen Rede. Aber alle großen Prosa-Meister <lb n="pko_021.014"/> kannten und wollten ihn; Goethe belehrte den Schauspieler Heinrich <lb n="pko_021.015"/> Franke, daß „beim Lesen und erst recht beim Sprechen eines gut gebauten <lb n="pko_021.016"/> schönen Satzes eine stille Melodie mitschwingt“; Flaubert berichtet <lb n="pko_021.017"/> von sich, daß ihm der Rhythmus seiner Sätze bisweilen schon vorschwebte, <lb n="pko_021.018"/> ehe er sich über ihren Inhalt im Klaren war<note xml:id="PKO_021_2" place="foot" n="2)"><lb n="pko_021.034"/> Vgl. die ähnlichen Äußerungen Schillers über seine poetische Produktion: „Das <lb n="pko_021.035"/> Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich <lb n="pko_021.036"/> hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff von Inhalt“ (an Körner 25. Mai <lb n="pko_021.037"/> 1792); „bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; <lb n="pko_021.038"/> dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung <lb n="pko_021.039"/> geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee“ (an Goethe <lb n="pko_021.040"/> 18. März 1796).</note>; Schleiermacher <lb n="pko_021.019"/> baute die Prosa seiner „Monologen“ eingestandenermaßen nach <lb n="pko_021.020"/> rhythmischen Gesichtspunkten; Nietzsche wußte und erklärte, daß Prosa <lb n="pko_021.021"/> sich nicht leichter, sondern eher schwerer schreibe als Verse, daß man <lb n="pko_021.022"/> „an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten“ müsse, daß der <lb n="pko_021.023"/> Takt des guten Prosaikers darin bestehe, „<hi rendition="#i">dicht</hi> an die Poesie heranzutreten, <lb n="pko_021.024"/> aber <hi rendition="#i">niemals</hi> zu ihr <hi rendition="#i">über</hi>zutreten“. Es mit Fachworten auszudrücken, <lb n="pko_021.025"/> die umstehend ihre Erklärung finden sollen: <hi rendition="#i">es gilt, aus <lb n="pko_021.026"/> dem Numerus nicht ins Metrum zu fallen.</hi></p> <p/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [21/0025]
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II. PROSODIK. pko_021.002
Die akustischen (klanglichen) Elemente der Sprache kommen in Vers pko_021.003
und Prosa gleichermaßen zur Geltung; das Unterscheidende liegt allein pko_021.004
darin, daß jene Elemente im Vers festen Gesetzen unterworfen werden pko_021.005
(gebundene Rede), während sie in der Prosa mehr oder weniger frei pko_021.006
bleiben (ungebundene Rede). Wenn jede systematische Gliederung sinnlich pko_021.007
wahrnehmbarer Vorgänge, die durch Abstufung der Schwere- pko_021.008
Elemente und Abstandszeiten sowie durch ordnende Zusammenfassung pko_021.009
der Glieder erfolgt, Rhythmus 1) (griech. „gleichmäßige Bewegung“) pko_021.010
genannt werden kann, so eignet er auch aller in künstlerischen Absichten pko_021.011
und Wirkungen sich ergehenden Prosa. Nur daß er hier minder bewußt, pko_021.012
minder willkürlich hervorgebracht wird als in der, vorgegebenen Gesetzen pko_021.013
gehorsamen, gebundenen Rede. Aber alle großen Prosa-Meister pko_021.014
kannten und wollten ihn; Goethe belehrte den Schauspieler Heinrich pko_021.015
Franke, daß „beim Lesen und erst recht beim Sprechen eines gut gebauten pko_021.016
schönen Satzes eine stille Melodie mitschwingt“; Flaubert berichtet pko_021.017
von sich, daß ihm der Rhythmus seiner Sätze bisweilen schon vorschwebte, pko_021.018
ehe er sich über ihren Inhalt im Klaren war 2); Schleiermacher pko_021.019
baute die Prosa seiner „Monologen“ eingestandenermaßen nach pko_021.020
rhythmischen Gesichtspunkten; Nietzsche wußte und erklärte, daß Prosa pko_021.021
sich nicht leichter, sondern eher schwerer schreibe als Verse, daß man pko_021.022
„an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten“ müsse, daß der pko_021.023
Takt des guten Prosaikers darin bestehe, „dicht an die Poesie heranzutreten, pko_021.024
aber niemals zu ihr überzutreten“. Es mit Fachworten auszudrücken, pko_021.025
die umstehend ihre Erklärung finden sollen: es gilt, aus pko_021.026
dem Numerus nicht ins Metrum zu fallen.
1) pko_021.027
Der Ursprung des Rhythmus wird wohl in dem (symmetrischen) Bau und den pko_021.028
periodischen (Herz- und Atem-)Bewegungen des menschlichen Körpers zu suchen pko_021.029
sein; von hier geht die allgemeine Tendenz zur Rhythmisierung sämtlicher Bewegungen pko_021.030
und Tätigkeiten (Marsch, Tanz, Rudern, Schmieden, überhaupt aller pko_021.031
regelmäßigen Arbeitsverrichtungen) aus; wahrscheinlich ist das gesamte Dasein pko_021.032
und Universum rhythmisch organisiert (Ebbe und Flut, Tages- und Jahreszeiten, pko_021.033
Gestirnbewegung).
2) pko_021.034
Vgl. die ähnlichen Äußerungen Schillers über seine poetische Produktion: „Das pko_021.035
Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich pko_021.036
hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff von Inhalt“ (an Körner 25. Mai pko_021.037
1792); „bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; pko_021.038
dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung pko_021.039
geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee“ (an Goethe pko_021.040
18. März 1796).
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Zitationshilfe: | Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/25>, abgerufen am 27.07.2024. |