Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949. pko_026.001 1. Verse. pko_026.002 pko_026.028 grünten / und blühten 1) pko_026.030 Takt (tactus, lat. "Berührung") bedeutet eigentlich das Aufschlagen des Fußes pko_026.031 oder eines Stockes bei der Leitung eines Musikstückes. 2) pko_026.032
Die antike Metrik unterscheidet als katalektisch (von griech. katalegein pko_026.033 "aufhören") solche Verse, deren letzter Fuß unvollständig bleibt, von den vollständig pko_026.034 ausklingenden (akatalektisch) und den um eine Silbe überzähligen pko_026.035 (hyperkatalektisch). pko_026.036 Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo pko_026.037(viertaktiger Trochäus, akatalektisch) pko_026.038 Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid pko_026.039(viertaktiger Trochäus, katalektisch) pko_026.040 Der Morgen kam, es scheuchten seine Schritte pko_026.041(fünffüßiger Jambus, hyperkatalektisch). pko_026.001 1. Verse. pko_026.002 pko_026.028 grünten / und blühten 1) pko_026.030 Takt (tactus, lat. „Berührung“) bedeutet eigentlich das Aufschlagen des Fußes pko_026.031 oder eines Stockes bei der Leitung eines Musikstückes. 2) pko_026.032
Die antike Metrik unterscheidet als kataléktisch (von griech. katalégein pko_026.033 „aufhören“) solche Verse, deren letzter Fuß unvollständig bleibt, von den vollständig pko_026.034 ausklingenden (akatalektisch) und den um eine Silbe überzähligen pko_026.035 (hyperkatalektisch). pko_026.036 Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo pko_026.037(viertaktiger Trochäus, akatalektisch) pko_026.038 Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid pko_026.039(viertaktiger Trochäus, katalektisch) pko_026.040 Der Morgen kam, es scheuchten seine Schritte pko_026.041(fünffüßiger Jambus, hyperkatalektisch). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0030" n="26"/> <div n="5"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pko_026.001"/> 1. <hi rendition="#i">Verse.</hi></hi> </head> <p><lb n="pko_026.002"/> Das Wichtigste am Verse ist sein Rhythmus. Der <hi rendition="#i">Versrhythmus</hi> beruht <lb n="pko_026.003"/> auf den Verhältnissen, in denen (Ton-)<hi rendition="#i">Stärke</hi> und (Zeit-)<hi rendition="#i">Dauer</hi> gesprochener <lb n="pko_026.004"/> Gebilde zueinander stehen. Die durch Stärke ausgezeichneten <lb n="pko_026.005"/> Glieder der rhythmischen Reihe nennt man <hi rendition="#i">Hebungen,</hi> die zwischen den <lb n="pko_026.006"/> Hebungen befindlichen schwachen Teile <hi rendition="#i">Senkungen;</hi> das Stück der Reihe <lb n="pko_026.007"/> von Hebung zu Hebung heißt <hi rendition="#i">Takt</hi><note xml:id="PKO_026_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_026.030"/> Takt (tactus, lat. „Berührung“) bedeutet eigentlich das Aufschlagen des Fußes <lb n="pko_026.031"/> oder eines Stockes bei der Leitung eines Musikstückes.</note>. Der <hi rendition="#i">Vers</hi> (lat. versus „Wendung“) <lb n="pko_026.008"/> ist eine in sich abgeschlossene Reihe von Takten, deren Anzahl <lb n="pko_026.009"/> entweder fest vorgeschrieben (Metrum) oder frei (vers libre) ist; die <lb n="pko_026.010"/> Takteinheiten (Schritte) nannte die antike Metrik „<hi rendition="#i">Füße</hi>“. Taktmäßige <lb n="pko_026.011"/> Gliederung ist das einzige objektive Merkmal, das den Vers von der <lb n="pko_026.012"/> Prosa unterscheidet; bei dieser ist Taktschlagen („Klopfbarkeit“) ausgeschlossen. <lb n="pko_026.013"/> <hi rendition="#i">Metra</hi> sind bloß klassifizierende Begriffe, die an sprachrhythmischen <lb n="pko_026.014"/> Reihen einige (lange nicht alle) wesentliche (aber nur <lb n="pko_026.015"/> äußerliche) Merkmale herausheben, nämlich Zahl und Lage der <lb n="pko_026.016"/> Hebungen und Senkungen, die Bildung der Versschlüsse<note xml:id="PKO_026_2" place="foot" n="2)"><lb n="pko_026.032"/> Die antike Metrik unterscheidet als <hi rendition="#g">kataléktisch</hi> (von griech. katalégein <lb n="pko_026.033"/> „aufhören“) solche Verse, deren letzter Fuß unvollständig bleibt, von den vollständig <lb n="pko_026.034"/> ausklingenden (<hi rendition="#g">akatalektisch</hi>) und den um eine Silbe überzähligen <lb n="pko_026.035"/> (<hi rendition="#g">hyperkatalektisch</hi>). <lb n="pko_026.036"/> <lg><l>Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo</l></lg> <lb n="pko_026.037"/> <hi rendition="#right">(viertaktiger Trochäus, akatalektisch)</hi> <lb n="pko_026.038"/> <lg><l>Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid</l></lg> <lb n="pko_026.039"/> <hi rendition="#right">(viertaktiger Trochäus, katalektisch)</hi> <lb n="pko_026.040"/> <lg><l>Der Morgen kam, es scheuchten seine Schritte</l></lg> <lb n="pko_026.041"/> <hi rendition="#right">(fünffüßiger Jambus, hyperkatalektisch).</hi></note> und die Art <lb n="pko_026.017"/> der Einschnitte (Zäsuren). Da der Vers die metrisch fest geregelte Zeile <lb n="pko_026.018"/> ist ohne Rücksicht auf die Gliederung des Satzes und Sinnes, wird es <lb n="pko_026.019"/> Grundgesetz aller Versgestaltung, daß die Takte und Wörter, die Verse <lb n="pko_026.020"/> und Sätze nicht zusammenfallen, sondern sich zu schwingender Einheit <lb n="pko_026.021"/> durchwachsen. Wo Satz und Sinn den Versschluß überschreiten, entsteht <lb n="pko_026.022"/> <hi rendition="#i">Versbrechung (Enjambement,</hi> französ. „Überschreitung“); z. B. „Ich <lb n="pko_026.023"/> melde dieses neue Hindernis / Dem Könige geschwind; beginne du / <lb n="pko_026.024"/> Das heil'ge Werk nicht eh', bis er's erlaubt“ (Goethe: Iphigenie). Einschnitte <lb n="pko_026.025"/> entstehen im gesprochenen Verse an den Grenzen der Kola <lb n="pko_026.026"/> (Atemgruppen); fällt die Kolongrenze in den Takt hinein, so bezeichnet <lb n="pko_026.027"/> man die Schnittstelle als <hi rendition="#i">Zäsúr</hi> (lat. „Schnitt“):</p> <p><lb n="pko_026.028"/> Kola: Pfingsten, / das liebliche Fest, / war gekommen; // es</p> <lb n="pko_026.029"/> <p> <hi rendition="#right">grünten / und blühten</hi> </p> <p/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [26/0030]
pko_026.001
1. Verse. pko_026.002
Das Wichtigste am Verse ist sein Rhythmus. Der Versrhythmus beruht pko_026.003
auf den Verhältnissen, in denen (Ton-)Stärke und (Zeit-)Dauer gesprochener pko_026.004
Gebilde zueinander stehen. Die durch Stärke ausgezeichneten pko_026.005
Glieder der rhythmischen Reihe nennt man Hebungen, die zwischen den pko_026.006
Hebungen befindlichen schwachen Teile Senkungen; das Stück der Reihe pko_026.007
von Hebung zu Hebung heißt Takt 1). Der Vers (lat. versus „Wendung“) pko_026.008
ist eine in sich abgeschlossene Reihe von Takten, deren Anzahl pko_026.009
entweder fest vorgeschrieben (Metrum) oder frei (vers libre) ist; die pko_026.010
Takteinheiten (Schritte) nannte die antike Metrik „Füße“. Taktmäßige pko_026.011
Gliederung ist das einzige objektive Merkmal, das den Vers von der pko_026.012
Prosa unterscheidet; bei dieser ist Taktschlagen („Klopfbarkeit“) ausgeschlossen. pko_026.013
Metra sind bloß klassifizierende Begriffe, die an sprachrhythmischen pko_026.014
Reihen einige (lange nicht alle) wesentliche (aber nur pko_026.015
äußerliche) Merkmale herausheben, nämlich Zahl und Lage der pko_026.016
Hebungen und Senkungen, die Bildung der Versschlüsse 2) und die Art pko_026.017
der Einschnitte (Zäsuren). Da der Vers die metrisch fest geregelte Zeile pko_026.018
ist ohne Rücksicht auf die Gliederung des Satzes und Sinnes, wird es pko_026.019
Grundgesetz aller Versgestaltung, daß die Takte und Wörter, die Verse pko_026.020
und Sätze nicht zusammenfallen, sondern sich zu schwingender Einheit pko_026.021
durchwachsen. Wo Satz und Sinn den Versschluß überschreiten, entsteht pko_026.022
Versbrechung (Enjambement, französ. „Überschreitung“); z. B. „Ich pko_026.023
melde dieses neue Hindernis / Dem Könige geschwind; beginne du / pko_026.024
Das heil'ge Werk nicht eh', bis er's erlaubt“ (Goethe: Iphigenie). Einschnitte pko_026.025
entstehen im gesprochenen Verse an den Grenzen der Kola pko_026.026
(Atemgruppen); fällt die Kolongrenze in den Takt hinein, so bezeichnet pko_026.027
man die Schnittstelle als Zäsúr (lat. „Schnitt“):
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Kola: Pfingsten, / das liebliche Fest, / war gekommen; // es
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grünten / und blühten
1) pko_026.030
Takt (tactus, lat. „Berührung“) bedeutet eigentlich das Aufschlagen des Fußes pko_026.031
oder eines Stockes bei der Leitung eines Musikstückes.
2) pko_026.032
Die antike Metrik unterscheidet als kataléktisch (von griech. katalégein pko_026.033
„aufhören“) solche Verse, deren letzter Fuß unvollständig bleibt, von den vollständig pko_026.034
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Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo
pko_026.037
(viertaktiger Trochäus, akatalektisch) pko_026.038
Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid
pko_026.039
(viertaktiger Trochäus, katalektisch) pko_026.040
Der Morgen kam, es scheuchten seine Schritte
pko_026.041
(fünffüßiger Jambus, hyperkatalektisch).
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Zitationshilfe: | Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koerner_poetik_1949/30>, abgerufen am 27.07.2024. |