Körner, Josef: Einführung in die Poetik. Frankfurt (Main), 1949.pko_045.001 pko_045.028 1) pko_045.036
Der Name bedeutet ursprünglich ein Schriftwerk in der romanischen Volkssprache pko_045.037 (s. o. S. 40), meinte zunächst die mittelalterliche Vers erzählung und ging, als pko_045.038 diese das Versgewand abwarf, auf die prosaische Erzählung über; nach Deutschland pko_045.039 kam das Wort erst im 17. Jahrhundert. pko_045.001 pko_045.028 1) pko_045.036
Der Name bedeutet ursprünglich ein Schriftwerk in der romanischen Volkssprache pko_045.037 (s. o. S. 40), meinte zunächst die mittelalterliche Vers erzählung und ging, als pko_045.038 diese das Versgewand abwarf, auf die prosaische Erzählung über; nach Deutschland pko_045.039 kam das Wort erst im 17. Jahrhundert. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <pb facs="#f0049" n="45"/> <p><lb n="pko_045.001"/> 1. <hi rendition="#i">Der Roman</hi><note xml:id="PKO_045_1" place="foot" n="1)"><lb n="pko_045.036"/> Der Name bedeutet ursprünglich ein Schriftwerk in der romanischen Volkssprache <lb n="pko_045.037"/> (s. o. S. 40), meinte zunächst die mittelalterliche <hi rendition="#g">Vers</hi> erzählung und ging, als <lb n="pko_045.038"/> diese das Versgewand abwarf, auf die prosaische Erzählung über; nach Deutschland <lb n="pko_045.039"/> kam das Wort erst im 17. Jahrhundert.</note> ist der legitime Nachfolger des Helden-Epos. Wie <lb n="pko_045.002"/> dieses in undifferenzierten Zeiten die noch ungebrochene völkische Gemeinschaft <lb n="pko_045.003"/> darstellt, so er innerhalb der atomisierten, zerfallenden <lb n="pko_045.004"/> Gesellschaft der Neuzeit das vereinzelte und seelisch vereinsamte Individuum; <lb n="pko_045.005"/> das Epos entfaltete flächenhaft ein homogenes Sein, der Roman <lb n="pko_045.006"/> zeichnet in die Tiefendimension eine menschliche Sonder-Entwicklung. <lb n="pko_045.007"/> Die unabsehbare Fülle und die wirre Zerrüttung modernen Lebens zu <lb n="pko_045.008"/> umgreifen, bedurfte es einer weiten, bequemen und geduldigen Form, <lb n="pko_045.009"/> eines für jeden Inhalt geeigneten Gefäßes; dessen war nur ungebundene <lb n="pko_045.010"/> Rede fähig, nur eine von künstlerischen Gesetzen möglichst unbelastete <lb n="pko_045.011"/> Dichtungsgattung. In dieser seiner Freiheit und Vielseitigkeit liegen <lb n="pko_045.012"/> freilich auch die Gefahren, die dichterischen Schwächen des Romans; <lb n="pko_045.013"/> seinem Gehalte nach wohnt er in bedenklicher Nachbarschaft zu den <lb n="pko_045.014"/> zweckhaften Wissenschaften, vor allem zu denen der Menschenkunde <lb n="pko_045.015"/> (Anthropologie) im weitesten Sinne: der Geschichte, Psychologie, Soziologie, <lb n="pko_045.016"/> Pädagogik, Kunstwissenschaft (historischer, psychologischer, Gesellschafts-, <lb n="pko_045.017"/> Erziehungs-, Künstler-Roman); der Form nach grenzt er, <lb n="pko_045.018"/> wo seiner Sprache die rhythmische Getragenheit fehlt, an den verwaschenen <lb n="pko_045.019"/> Stil der Tageszeitung, in die er als Unterhaltungsroman völlig eingeht. <lb n="pko_045.020"/> So muß das Urteil über diese Dichtungsart notwendigerweise verschieden <lb n="pko_045.021"/> ausfallen, je nachdem man ihre Vorzüge oder ihre Gebrechen <lb n="pko_045.022"/> in den Blick nimmt; noch für Schiller war sie „schlechterdings nicht poetisch“, <lb n="pko_045.023"/> für Fichte „die Form der Epoche vollendeter Sündhaftigkeit“; <lb n="pko_045.024"/> heute wird sie von manchen Dichtern und Kunstwissenschaftlern als <lb n="pko_045.025"/> die höchste und reinste Gattung gepriesen, an umfassendem Gehalt der <lb n="pko_045.026"/> Lebenswiedergabe über das Drama gestellt; ein Urteil, das hinsichtlich <lb n="pko_045.027"/> der Leistung etwa eines Thomas Mann vollauf zurechtbesteht.</p> <p><lb n="pko_045.028"/> Der Roman kann auf jede der drei möglichen Zeitstufen gestellt <lb n="pko_045.029"/> werden; als <hi rendition="#i">Geschichtsroman</hi> schildert er vergangenes Dasein, als <hi rendition="#i">Zeitroman</hi> <lb n="pko_045.030"/> die Gegenwart, als <hi rendition="#i">utopisch-phantastischer Roman</hi> eine erträumte <lb n="pko_045.031"/> (ersehnte oder gefürchtete) Zukunft. Der Zeitroman selbst zeichnet <lb n="pko_045.032"/> entweder einläßlich die geistig-seelische Entwicklung eines Einzelnen <lb n="pko_045.033"/> <hi rendition="#i">(Bildungs- und Erziehungsroman:</hi> Grimmelshausens „Simplicissimus“, <lb n="pko_045.034"/> Goethes „Wilhelm Meister“, Kellers „Grüner Heinrich“, Hesses „Peter <lb n="pko_045.035"/> Camenzind“) oder entrollt weitschichtig das gesellschaftliche Dasein </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0049]
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1. Der Roman 1) ist der legitime Nachfolger des Helden-Epos. Wie pko_045.002
dieses in undifferenzierten Zeiten die noch ungebrochene völkische Gemeinschaft pko_045.003
darstellt, so er innerhalb der atomisierten, zerfallenden pko_045.004
Gesellschaft der Neuzeit das vereinzelte und seelisch vereinsamte Individuum; pko_045.005
das Epos entfaltete flächenhaft ein homogenes Sein, der Roman pko_045.006
zeichnet in die Tiefendimension eine menschliche Sonder-Entwicklung. pko_045.007
Die unabsehbare Fülle und die wirre Zerrüttung modernen Lebens zu pko_045.008
umgreifen, bedurfte es einer weiten, bequemen und geduldigen Form, pko_045.009
eines für jeden Inhalt geeigneten Gefäßes; dessen war nur ungebundene pko_045.010
Rede fähig, nur eine von künstlerischen Gesetzen möglichst unbelastete pko_045.011
Dichtungsgattung. In dieser seiner Freiheit und Vielseitigkeit liegen pko_045.012
freilich auch die Gefahren, die dichterischen Schwächen des Romans; pko_045.013
seinem Gehalte nach wohnt er in bedenklicher Nachbarschaft zu den pko_045.014
zweckhaften Wissenschaften, vor allem zu denen der Menschenkunde pko_045.015
(Anthropologie) im weitesten Sinne: der Geschichte, Psychologie, Soziologie, pko_045.016
Pädagogik, Kunstwissenschaft (historischer, psychologischer, Gesellschafts-, pko_045.017
Erziehungs-, Künstler-Roman); der Form nach grenzt er, pko_045.018
wo seiner Sprache die rhythmische Getragenheit fehlt, an den verwaschenen pko_045.019
Stil der Tageszeitung, in die er als Unterhaltungsroman völlig eingeht. pko_045.020
So muß das Urteil über diese Dichtungsart notwendigerweise verschieden pko_045.021
ausfallen, je nachdem man ihre Vorzüge oder ihre Gebrechen pko_045.022
in den Blick nimmt; noch für Schiller war sie „schlechterdings nicht poetisch“, pko_045.023
für Fichte „die Form der Epoche vollendeter Sündhaftigkeit“; pko_045.024
heute wird sie von manchen Dichtern und Kunstwissenschaftlern als pko_045.025
die höchste und reinste Gattung gepriesen, an umfassendem Gehalt der pko_045.026
Lebenswiedergabe über das Drama gestellt; ein Urteil, das hinsichtlich pko_045.027
der Leistung etwa eines Thomas Mann vollauf zurechtbesteht.
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Der Roman kann auf jede der drei möglichen Zeitstufen gestellt pko_045.029
werden; als Geschichtsroman schildert er vergangenes Dasein, als Zeitroman pko_045.030
die Gegenwart, als utopisch-phantastischer Roman eine erträumte pko_045.031
(ersehnte oder gefürchtete) Zukunft. Der Zeitroman selbst zeichnet pko_045.032
entweder einläßlich die geistig-seelische Entwicklung eines Einzelnen pko_045.033
(Bildungs- und Erziehungsroman: Grimmelshausens „Simplicissimus“, pko_045.034
Goethes „Wilhelm Meister“, Kellers „Grüner Heinrich“, Hesses „Peter pko_045.035
Camenzind“) oder entrollt weitschichtig das gesellschaftliche Dasein
1) pko_045.036
Der Name bedeutet ursprünglich ein Schriftwerk in der romanischen Volkssprache pko_045.037
(s. o. S. 40), meinte zunächst die mittelalterliche Vers erzählung und ging, als pko_045.038
diese das Versgewand abwarf, auf die prosaische Erzählung über; nach Deutschland pko_045.039
kam das Wort erst im 17. Jahrhundert.
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