Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.zweite Mädchen, die haben sie taufen lassen, wie meine Alte geheißen hat, nämlich Marianka -- Marianka? rief Josseph verwundert. Marianka, ein gar prächtiges Kind, das läuft Euch zwischen meine Füße und hält sich da fest und schaut' mich an, als wär' ich ihr seit ihrer Geburt bekannt. Stellt Euch vor, wie ich erschrecke, als das Kind mit Gewalt auf meinen Arm hinauf will, und sagt: Großvater, Großvater! Meines Pawel's Weib lacht drob und meint zu dem Kinde: das ist ja nicht dein Großvater, du Närrchen, aber aussehen mag er schon wie dieser da, und will das Kind mir wegnehmen; das aber hält fest an mir und schreit: ich bleibe bei meinem Großvater. Just läutet die Glocke in diesem Augenblicke den Abendsegen, da seh' ich, was ich nicht erwartet habe. Meines Pawel's Weib kniet nieder vor dem Heiland, die anderen Kinder, das älteste Mädchen und der jüngere Knabe, knieen zu ihr hin, und mit lauter Stimme sagt sie ihnen das Vaterunser vor, und die Kinder beten es ihr nach. Ich hab' ihr zugehört, wie wenn ich, der ich siebenzig und etliche Jahre alt geworden bin, das zum ersten Male in meinem Leben gehört hätte. Ist das eine Jüdin gewesen? hab' ich mir gedacht, die hat ja schon am ersten Tage, wie sie geboren wurde, das heilige Wasser der Taufe erhalten. Namenlose Qualen im Herzen bergend, vermochte Josseph dieser Erzählung, die alle seine Lebensgeister zweite Mädchen, die haben sie taufen lassen, wie meine Alte geheißen hat, nämlich Marianka — Marianka? rief Josseph verwundert. Marianka, ein gar prächtiges Kind, das läuft Euch zwischen meine Füße und hält sich da fest und schaut' mich an, als wär' ich ihr seit ihrer Geburt bekannt. Stellt Euch vor, wie ich erschrecke, als das Kind mit Gewalt auf meinen Arm hinauf will, und sagt: Großvater, Großvater! Meines Pawel's Weib lacht drob und meint zu dem Kinde: das ist ja nicht dein Großvater, du Närrchen, aber aussehen mag er schon wie dieser da, und will das Kind mir wegnehmen; das aber hält fest an mir und schreit: ich bleibe bei meinem Großvater. Just läutet die Glocke in diesem Augenblicke den Abendsegen, da seh' ich, was ich nicht erwartet habe. Meines Pawel's Weib kniet nieder vor dem Heiland, die anderen Kinder, das älteste Mädchen und der jüngere Knabe, knieen zu ihr hin, und mit lauter Stimme sagt sie ihnen das Vaterunser vor, und die Kinder beten es ihr nach. Ich hab' ihr zugehört, wie wenn ich, der ich siebenzig und etliche Jahre alt geworden bin, das zum ersten Male in meinem Leben gehört hätte. Ist das eine Jüdin gewesen? hab' ich mir gedacht, die hat ja schon am ersten Tage, wie sie geboren wurde, das heilige Wasser der Taufe erhalten. Namenlose Qualen im Herzen bergend, vermochte Josseph dieser Erzählung, die alle seine Lebensgeister <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="8"> <p><pb facs="#f0124"/> zweite Mädchen, die haben sie taufen lassen, wie meine Alte geheißen hat, nämlich Marianka —</p><lb/> <p>Marianka? rief Josseph verwundert.</p><lb/> <p>Marianka, ein gar prächtiges Kind, das läuft Euch zwischen meine Füße und hält sich da fest und schaut' mich an, als wär' ich ihr seit ihrer Geburt bekannt. Stellt Euch vor, wie ich erschrecke, als das Kind mit Gewalt auf meinen Arm hinauf will, und sagt: Großvater, Großvater! Meines Pawel's Weib lacht drob und meint zu dem Kinde: das ist ja nicht dein Großvater, du Närrchen, aber aussehen mag er schon wie dieser da, und will das Kind mir wegnehmen; das aber hält fest an mir und schreit: ich bleibe bei meinem Großvater. Just läutet die Glocke in diesem Augenblicke den Abendsegen, da seh' ich, was ich nicht erwartet habe. Meines Pawel's Weib kniet nieder vor dem Heiland, die anderen Kinder, das älteste Mädchen und der jüngere Knabe, knieen zu ihr hin, und mit lauter Stimme sagt sie ihnen das Vaterunser vor, und die Kinder beten es ihr nach. Ich hab' ihr zugehört, wie wenn ich, der ich siebenzig und etliche Jahre alt geworden bin, das zum ersten Male in meinem Leben gehört hätte. Ist das eine Jüdin gewesen? hab' ich mir gedacht, die hat ja schon am ersten Tage, wie sie geboren wurde, das heilige Wasser der Taufe erhalten.</p><lb/> <p>Namenlose Qualen im Herzen bergend, vermochte Josseph dieser Erzählung, die alle seine Lebensgeister<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0124]
zweite Mädchen, die haben sie taufen lassen, wie meine Alte geheißen hat, nämlich Marianka —
Marianka? rief Josseph verwundert.
Marianka, ein gar prächtiges Kind, das läuft Euch zwischen meine Füße und hält sich da fest und schaut' mich an, als wär' ich ihr seit ihrer Geburt bekannt. Stellt Euch vor, wie ich erschrecke, als das Kind mit Gewalt auf meinen Arm hinauf will, und sagt: Großvater, Großvater! Meines Pawel's Weib lacht drob und meint zu dem Kinde: das ist ja nicht dein Großvater, du Närrchen, aber aussehen mag er schon wie dieser da, und will das Kind mir wegnehmen; das aber hält fest an mir und schreit: ich bleibe bei meinem Großvater. Just läutet die Glocke in diesem Augenblicke den Abendsegen, da seh' ich, was ich nicht erwartet habe. Meines Pawel's Weib kniet nieder vor dem Heiland, die anderen Kinder, das älteste Mädchen und der jüngere Knabe, knieen zu ihr hin, und mit lauter Stimme sagt sie ihnen das Vaterunser vor, und die Kinder beten es ihr nach. Ich hab' ihr zugehört, wie wenn ich, der ich siebenzig und etliche Jahre alt geworden bin, das zum ersten Male in meinem Leben gehört hätte. Ist das eine Jüdin gewesen? hab' ich mir gedacht, die hat ja schon am ersten Tage, wie sie geboren wurde, das heilige Wasser der Taufe erhalten.
Namenlose Qualen im Herzen bergend, vermochte Josseph dieser Erzählung, die alle seine Lebensgeister
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/124>, abgerufen am 18.07.2024. |