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Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.

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de zu entrücken, so nenne ich ihm Heidelberg; und wenn
ein Glücklicher mich fragt, welchen Ort er wählen solle,
um jede Freude des Lebens frisch zu kränzen, so nenne ich
ihm abermals Heidelberg. Romantische Lage, milde Luft,
biedre Menschen, Zwanglosigkeit, bequeme Wohnungen,
Wohlfeilheit: welche Vortheile! und doch bei weitem noch
nicht alle: denn einen der größten gewährt Heidelberg noch
als Nachbarin so mancher schönen angenehmen Stadt, so
manches freundlichen Städtchens. Will der Leidende mit
seinem Gram allein seyn, -- und das möchte er ja an-
fangs immer! -- so wandelt er am reizenden Ufer des Ne-
ckar, oder auf den üppigen Bergen, oder in den majestä-
tischen Ruinen des Schlosses, oder er macht kleine Excur-
sionen nach Weinheim, Heppenheim etc. Hat aber erst sein
Kummer aus dem Gebiethe der Verzweiflung sich entfernt,
darf er Menschen und Menschengewühl nicht mehr scheuen,
so kann er meistens in einem halben, höchstens in einem
ganzen Tage, in Manheim, Stuttgard, Frankfurt am
Main, im Theater sich erlustigen, er kann in Darmstadt,
Heilbronn, Bruchsal, Hanau, Speier, Worms, Oppen-
heim, Offenbach, kurz links und rechts, und überall, Zer-
streuung finden. Heidelberg selbst besitzt der kleinen Merk-
würdigkeiten so manche. Die Ruinen des Schlosses sind
einzig; die Aussichten wecken dort Gedanken an das
bessere Leben. Die alten unterirdischen Gänge beschäftigen
eine rege Einbildungskraft. Sie sollen nach der Stadt
führen, werden aber, um der Gefahr willen, weislich jetzt
verschüttet. Vor einigen Jahren versank ein Emigrant,
der seinem Führer vorausgeeilt war. Glücklicher Weise
war er kurz vorher von einigen Knaben bettelnd verfolgt
worden; sie hatten sich die Gegend gemerkt, in welcher er
verschwunden war, man zog ihn wieder heraus. Er er-

de zu entruͤcken, so nenne ich ihm Heidelberg; und wenn
ein Gluͤcklicher mich fragt, welchen Ort er waͤhlen solle,
um jede Freude des Lebens frisch zu kraͤnzen, so nenne ich
ihm abermals Heidelberg. Romantische Lage, milde Luft,
biedre Menschen, Zwanglosigkeit, bequeme Wohnungen,
Wohlfeilheit: welche Vortheile! und doch bei weitem noch
nicht alle: denn einen der groͤßten gewaͤhrt Heidelberg noch
als Nachbarin so mancher schoͤnen angenehmen Stadt, so
manches freundlichen Staͤdtchens. Will der Leidende mit
seinem Gram allein seyn, — und das moͤchte er ja an-
fangs immer! — so wandelt er am reizenden Ufer des Ne-
ckar, oder auf den uͤppigen Bergen, oder in den majestaͤ-
tischen Ruinen des Schlosses, oder er macht kleine Excur-
sionen nach Weinheim, Heppenheim ꝛc. Hat aber erst sein
Kummer aus dem Gebiethe der Verzweiflung sich entfernt,
darf er Menschen und Menschengewuͤhl nicht mehr scheuen,
so kann er meistens in einem halben, hoͤchstens in einem
ganzen Tage, in Manheim, Stuttgard, Frankfurt am
Main, im Theater sich erlustigen, er kann in Darmstadt,
Heilbronn, Bruchsal, Hanau, Speier, Worms, Oppen-
heim, Offenbach, kurz links und rechts, und uͤberall, Zer-
streuung finden. Heidelberg selbst besitzt der kleinen Merk-
wuͤrdigkeiten so manche. Die Ruinen des Schlosses sind
einzig; die Aussichten wecken dort Gedanken an das
bessere Leben. Die alten unterirdischen Gaͤnge beschaͤftigen
eine rege Einbildungskraft. Sie sollen nach der Stadt
fuͤhren, werden aber, um der Gefahr willen, weislich jetzt
verschuͤttet. Vor einigen Jahren versank ein Emigrant,
der seinem Fuͤhrer vorausgeeilt war. Gluͤcklicher Weise
war er kurz vorher von einigen Knaben bettelnd verfolgt
worden; sie hatten sich die Gegend gemerkt, in welcher er
verschwunden war, man zog ihn wieder heraus. Er er-

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[13/0017] de zu entruͤcken, so nenne ich ihm Heidelberg; und wenn ein Gluͤcklicher mich fragt, welchen Ort er waͤhlen solle, um jede Freude des Lebens frisch zu kraͤnzen, so nenne ich ihm abermals Heidelberg. Romantische Lage, milde Luft, biedre Menschen, Zwanglosigkeit, bequeme Wohnungen, Wohlfeilheit: welche Vortheile! und doch bei weitem noch nicht alle: denn einen der groͤßten gewaͤhrt Heidelberg noch als Nachbarin so mancher schoͤnen angenehmen Stadt, so manches freundlichen Staͤdtchens. Will der Leidende mit seinem Gram allein seyn, — und das moͤchte er ja an- fangs immer! — so wandelt er am reizenden Ufer des Ne- ckar, oder auf den uͤppigen Bergen, oder in den majestaͤ- tischen Ruinen des Schlosses, oder er macht kleine Excur- sionen nach Weinheim, Heppenheim ꝛc. Hat aber erst sein Kummer aus dem Gebiethe der Verzweiflung sich entfernt, darf er Menschen und Menschengewuͤhl nicht mehr scheuen, so kann er meistens in einem halben, hoͤchstens in einem ganzen Tage, in Manheim, Stuttgard, Frankfurt am Main, im Theater sich erlustigen, er kann in Darmstadt, Heilbronn, Bruchsal, Hanau, Speier, Worms, Oppen- heim, Offenbach, kurz links und rechts, und uͤberall, Zer- streuung finden. Heidelberg selbst besitzt der kleinen Merk- wuͤrdigkeiten so manche. Die Ruinen des Schlosses sind einzig; die Aussichten wecken dort Gedanken an das bessere Leben. Die alten unterirdischen Gaͤnge beschaͤftigen eine rege Einbildungskraft. Sie sollen nach der Stadt fuͤhren, werden aber, um der Gefahr willen, weislich jetzt verschuͤttet. Vor einigen Jahren versank ein Emigrant, der seinem Fuͤhrer vorausgeeilt war. Gluͤcklicher Weise war er kurz vorher von einigen Knaben bettelnd verfolgt worden; sie hatten sich die Gegend gemerkt, in welcher er verschwunden war, man zog ihn wieder heraus. Er er-

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Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/17>, abgerufen am 30.04.2024.