Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Text soll die Herzen rühren, und würde es auch,
wenn die Kinder nicht so gedankenlos plärrten, und im-
mer so frech um sich her schauten. Jetzt erregen ihr An-
blick und ihre Klagetöne blos den Gedanken: das werden
einmal ein paar Taugenichtse. -- Weit besser berechnet
ist eine Kindergruppe, zu der ich Sie nicht führen will,
weil sie das Herz zerreißt. -- Jn der Straße Vivienne
nemlich hab' ich länger als drei Wochen hintereinander
(doch nur Abends, wenn es dunkel wurde) drei unglück-
liche Kinder im Korbe liegen sehen. Das älteste derselben
war ein Knabe von etwa zehn Jahren, der saß an der
Mauer und hielt auf seinem Schooß ein anderes in Lum-
pen gehülltes Wesen, von höchstens drei Jahren, welches
gewöhnlich wimmerte. Daneben stand oder lag ein drit-
tes Jammerbild, etwa fünf Jahre alt. Diese Kinder bet-
telten nicht, sondern hatten vor sich ein kleines Stümp-
gen Talglicht, neben dem auf einem Lappen ein geschrie-
bener Zettel lag, des einfach-rührenden Jnhalts: "Wir
haben weder Vater noch Mutter." -- Selten blieb ein
Vorübergehender ungerührt, und da die Straße sehr lebhaft
ist, so war die Erndte immer reichlich. Mit Vergnügen
habe ich bemerkt, daß besonders die Soldaten gaben
und viel gaben. Einen derselben sah ich eines Abends tief
gerührt. Er trug einen großen schwarzen Backenbart, der
im wilden Contrast mit der Rührung in seinen Gesichts-
Muskeln, von dem schwachen Schimmer des Talglichts
aufwärts beleuchtet, seinen Schatten auf eine Thräne
warf. Er blickte einige Minuten still auf die Gruppe nie-
der; der arme kleine Wurm wimmerte eben recht laut,
weil ihn fror. Hastig griff der wackre Soldat in die Ta-
sche, und gab dem ältern Knaben zwei Silbermünzen, (ich
glaube zwei zwölf Sousstücke) unter der Bedingung, daß

Der Text soll die Herzen ruͤhren, und wuͤrde es auch,
wenn die Kinder nicht so gedankenlos plaͤrrten, und im-
mer so frech um sich her schauten. Jetzt erregen ihr An-
blick und ihre Klagetoͤne blos den Gedanken: das werden
einmal ein paar Taugenichtse. — Weit besser berechnet
ist eine Kindergruppe, zu der ich Sie nicht fuͤhren will,
weil sie das Herz zerreißt. — Jn der Straße Vivienne
nemlich hab' ich laͤnger als drei Wochen hintereinander
(doch nur Abends, wenn es dunkel wurde) drei ungluͤck-
liche Kinder im Korbe liegen sehen. Das aͤlteste derselben
war ein Knabe von etwa zehn Jahren, der saß an der
Mauer und hielt auf seinem Schooß ein anderes in Lum-
pen gehuͤlltes Wesen, von hoͤchstens drei Jahren, welches
gewoͤhnlich wimmerte. Daneben stand oder lag ein drit-
tes Jammerbild, etwa fuͤnf Jahre alt. Diese Kinder bet-
telten nicht, sondern hatten vor sich ein kleines Stuͤmp-
gen Talglicht, neben dem auf einem Lappen ein geschrie-
bener Zettel lag, des einfach-ruͤhrenden Jnhalts: „Wir
haben weder Vater noch Mutter.“ — Selten blieb ein
Voruͤbergehender ungeruͤhrt, und da die Straße sehr lebhaft
ist, so war die Erndte immer reichlich. Mit Vergnuͤgen
habe ich bemerkt, daß besonders die Soldaten gaben
und viel gaben. Einen derselben sah ich eines Abends tief
geruͤhrt. Er trug einen großen schwarzen Backenbart, der
im wilden Contrast mit der Ruͤhrung in seinen Gesichts-
Muskeln, von dem schwachen Schimmer des Talglichts
aufwaͤrts beleuchtet, seinen Schatten auf eine Thraͤne
warf. Er blickte einige Minuten still auf die Gruppe nie-
der; der arme kleine Wurm wimmerte eben recht laut,
weil ihn fror. Hastig griff der wackre Soldat in die Ta-
sche, und gab dem aͤltern Knaben zwei Silbermuͤnzen, (ich
glaube zwei zwoͤlf Sousstuͤcke) unter der Bedingung, daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0064" n="60"/>
Der Text soll die Herzen ru&#x0364;hren, und wu&#x0364;rde es auch,<lb/>
wenn die Kinder nicht so gedankenlos pla&#x0364;rrten, und im-<lb/>
mer so frech um sich her schauten. Jetzt erregen ihr An-<lb/>
blick und ihre Klageto&#x0364;ne blos den Gedanken: das werden<lb/>
einmal ein paar Taugenichtse. &#x2014; Weit besser berechnet<lb/>
ist eine Kindergruppe, zu der ich Sie nicht fu&#x0364;hren will,<lb/>
weil sie das Herz zerreißt. &#x2014; Jn der Straße Vivienne<lb/>
nemlich hab' ich la&#x0364;nger als drei Wochen hintereinander<lb/>
(doch nur Abends, wenn es dunkel wurde) drei unglu&#x0364;ck-<lb/>
liche Kinder im Korbe liegen sehen. Das a&#x0364;lteste derselben<lb/>
war ein Knabe von etwa zehn Jahren, der saß an der<lb/>
Mauer und hielt auf seinem Schooß ein anderes in Lum-<lb/>
pen gehu&#x0364;lltes Wesen, von ho&#x0364;chstens drei Jahren, welches<lb/>
gewo&#x0364;hnlich wimmerte. Daneben stand oder lag ein drit-<lb/>
tes Jammerbild, etwa fu&#x0364;nf Jahre alt. Diese Kinder bet-<lb/>
telten nicht, sondern hatten vor sich ein kleines Stu&#x0364;mp-<lb/>
gen Talglicht, neben dem auf einem Lappen ein geschrie-<lb/>
bener Zettel lag, des einfach-ru&#x0364;hrenden Jnhalts: &#x201E;Wir<lb/>
haben weder Vater noch Mutter.&#x201C; &#x2014; Selten blieb ein<lb/>
Voru&#x0364;bergehender ungeru&#x0364;hrt, und da die Straße sehr lebhaft<lb/>
ist, so war die Erndte immer reichlich. Mit Vergnu&#x0364;gen<lb/>
habe ich bemerkt, daß besonders die <hi rendition="#g">Soldaten</hi> gaben<lb/>
und viel gaben. Einen derselben sah ich eines Abends tief<lb/>
geru&#x0364;hrt. Er trug einen großen schwarzen Backenbart, der<lb/>
im wilden Contrast mit der Ru&#x0364;hrung in seinen Gesichts-<lb/>
Muskeln, von dem schwachen Schimmer des Talglichts<lb/>
aufwa&#x0364;rts beleuchtet, seinen Schatten auf eine Thra&#x0364;ne<lb/>
warf. Er blickte einige Minuten still auf die Gruppe nie-<lb/>
der; der arme kleine Wurm wimmerte eben recht laut,<lb/>
weil ihn fror. Hastig griff der wackre Soldat in die Ta-<lb/>
sche, und gab dem a&#x0364;ltern Knaben zwei Silbermu&#x0364;nzen, (ich<lb/>
glaube zwei zwo&#x0364;lf Sousstu&#x0364;cke) unter der Bedingung, daß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0064] Der Text soll die Herzen ruͤhren, und wuͤrde es auch, wenn die Kinder nicht so gedankenlos plaͤrrten, und im- mer so frech um sich her schauten. Jetzt erregen ihr An- blick und ihre Klagetoͤne blos den Gedanken: das werden einmal ein paar Taugenichtse. — Weit besser berechnet ist eine Kindergruppe, zu der ich Sie nicht fuͤhren will, weil sie das Herz zerreißt. — Jn der Straße Vivienne nemlich hab' ich laͤnger als drei Wochen hintereinander (doch nur Abends, wenn es dunkel wurde) drei ungluͤck- liche Kinder im Korbe liegen sehen. Das aͤlteste derselben war ein Knabe von etwa zehn Jahren, der saß an der Mauer und hielt auf seinem Schooß ein anderes in Lum- pen gehuͤlltes Wesen, von hoͤchstens drei Jahren, welches gewoͤhnlich wimmerte. Daneben stand oder lag ein drit- tes Jammerbild, etwa fuͤnf Jahre alt. Diese Kinder bet- telten nicht, sondern hatten vor sich ein kleines Stuͤmp- gen Talglicht, neben dem auf einem Lappen ein geschrie- bener Zettel lag, des einfach-ruͤhrenden Jnhalts: „Wir haben weder Vater noch Mutter.“ — Selten blieb ein Voruͤbergehender ungeruͤhrt, und da die Straße sehr lebhaft ist, so war die Erndte immer reichlich. Mit Vergnuͤgen habe ich bemerkt, daß besonders die Soldaten gaben und viel gaben. Einen derselben sah ich eines Abends tief geruͤhrt. Er trug einen großen schwarzen Backenbart, der im wilden Contrast mit der Ruͤhrung in seinen Gesichts- Muskeln, von dem schwachen Schimmer des Talglichts aufwaͤrts beleuchtet, seinen Schatten auf eine Thraͤne warf. Er blickte einige Minuten still auf die Gruppe nie- der; der arme kleine Wurm wimmerte eben recht laut, weil ihn fror. Hastig griff der wackre Soldat in die Ta- sche, und gab dem aͤltern Knaben zwei Silbermuͤnzen, (ich glaube zwei zwoͤlf Sousstuͤcke) unter der Bedingung, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/64
Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/64>, abgerufen am 18.12.2024.