Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804.er das Kind gleich nach Haus tragen und wärmen sollte. Eigentlich angebettelt wird man in Paris selten oder Doch es regnet ja jetzt nicht, und ich vergesse, daß er das Kind gleich nach Haus tragen und waͤrmen sollte. Eigentlich angebettelt wird man in Paris selten oder Doch es regnet ja jetzt nicht, und ich vergesse, daß <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0065" n="61"/> er das Kind gleich nach Haus tragen und waͤrmen sollte.<lb/> Drei oder viermal wiederholte er diese Bedingung, und<lb/> ließ sich die Erfuͤllung derselben eben so oft von dem Kna-<lb/> ben versprechen. Dann gieng er. Jndem er sich umwen-<lb/> dete, stieß er auf mich. „Sie sind gewiß Vater?“ rede-<lb/> te ich ihn an. Oui, Monsieur! antwortete er ziemlich<lb/> barsch und eilte davon. Jch blieb noch eine Weile und<lb/> gab acht, ob der Knabe seine kleinen Geschwister verspro-<lb/> chenermaßen heimfuͤhren werde? Er that es nicht. — Daß<lb/> uͤbrigens die Polizei dieses Schauspiel viele Wochen hin-<lb/> tereinander duldete, gefaͤllt mir nicht. Fast scheint es mir<lb/> unmoͤglich, daß die armen Kinder den Winter hindurch ge-<lb/> sund bleiben koͤnnen.</p><lb/> <p>Eigentlich angebettelt wird man in Paris selten oder<lb/> nie. Nur dann und wann hoͤrt man ein: Monsieur, je<lb/> meurs de faim! (Mein Herr, ich sterbe vor Hunger) hin-<lb/> ter sich her fluͤstern. Gewoͤhnlich sucht jeder Arme sich ei-<lb/> ne Art von guͤltigem Anspruch auf eine Gabe zu verschaf-<lb/> fen. Der Eine laͤuft, mit dem Besen in der Hand, wenn<lb/> Sie eben durch eine schmutzige Stelle gehen wollen, und<lb/> fegt Jhnen schnell einen Fußsteig rein; der Andere benutzt<lb/> einen Platzregen, der die Mitte der Straße mit Wasser<lb/> fuͤllt, legt ein bequemes Brett daruͤber und steht freund-<lb/> lich helfend daneben. Nach den Kleidern beurtheilt er die-<lb/> jenigen, die ihm etwas geben koͤnnen oder sollen; alle die<lb/> er fuͤr arm haͤlt, laͤßt er ungehindert passiren, und huͤb-<lb/> schen Maͤdchen hilft er noch obendarein galant hinuͤber.</p><lb/> <p>Doch es regnet ja jetzt nicht, und ich vergesse, daß<lb/> wir spazieren gehen, um das Straßengetuͤmmel zu beob-<lb/> achten. — Sollte man nicht Wunder denken, was in je-<lb/> nem dichten Kreise von Menschen Merkwuͤrdiges vorgehe?<lb/> Ein alter Kerl, vielleicht ein verdorbener Seiltaͤnzer, hat<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [61/0065]
er das Kind gleich nach Haus tragen und waͤrmen sollte.
Drei oder viermal wiederholte er diese Bedingung, und
ließ sich die Erfuͤllung derselben eben so oft von dem Kna-
ben versprechen. Dann gieng er. Jndem er sich umwen-
dete, stieß er auf mich. „Sie sind gewiß Vater?“ rede-
te ich ihn an. Oui, Monsieur! antwortete er ziemlich
barsch und eilte davon. Jch blieb noch eine Weile und
gab acht, ob der Knabe seine kleinen Geschwister verspro-
chenermaßen heimfuͤhren werde? Er that es nicht. — Daß
uͤbrigens die Polizei dieses Schauspiel viele Wochen hin-
tereinander duldete, gefaͤllt mir nicht. Fast scheint es mir
unmoͤglich, daß die armen Kinder den Winter hindurch ge-
sund bleiben koͤnnen.
Eigentlich angebettelt wird man in Paris selten oder
nie. Nur dann und wann hoͤrt man ein: Monsieur, je
meurs de faim! (Mein Herr, ich sterbe vor Hunger) hin-
ter sich her fluͤstern. Gewoͤhnlich sucht jeder Arme sich ei-
ne Art von guͤltigem Anspruch auf eine Gabe zu verschaf-
fen. Der Eine laͤuft, mit dem Besen in der Hand, wenn
Sie eben durch eine schmutzige Stelle gehen wollen, und
fegt Jhnen schnell einen Fußsteig rein; der Andere benutzt
einen Platzregen, der die Mitte der Straße mit Wasser
fuͤllt, legt ein bequemes Brett daruͤber und steht freund-
lich helfend daneben. Nach den Kleidern beurtheilt er die-
jenigen, die ihm etwas geben koͤnnen oder sollen; alle die
er fuͤr arm haͤlt, laͤßt er ungehindert passiren, und huͤb-
schen Maͤdchen hilft er noch obendarein galant hinuͤber.
Doch es regnet ja jetzt nicht, und ich vergesse, daß
wir spazieren gehen, um das Straßengetuͤmmel zu beob-
achten. — Sollte man nicht Wunder denken, was in je-
nem dichten Kreise von Menschen Merkwuͤrdiges vorgehe?
Ein alter Kerl, vielleicht ein verdorbener Seiltaͤnzer, hat
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