Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite
Gerard.

Auch dieser brave Geschichtsmaler ist Dichter, das
beurkundet sein herrlicher Belisar: denn die höchst
poetische Situation, in welche er auf diesem Bilde den
blinden Greis gesetzt hat, ist seine eigene glückliche, doch
herzzerreißende Fiktion. Der Jüngling, welcher dem Beli-
sar zum Führer diente, ist, durch den Stich einer Schlan-
ge verwundert, gestorben. Belisar trägt ihn fort, die
Schlange hängt dem Jünglinge noch am Fuße; die Son-
ne ist eben im Untergehen begriffen. Der arme Blinde,
seines Führers beraubt, hat in unwegsamen Gegenden
den Pfad verloren, die Nacht ist da, er sucht mit dem
Stocke seitwärts einen Weg, und weis nicht, daß ge-
rade vor ihm ein Abgrund ist, dem er bereits ganz nahe
steht. Das Bild erschüttert unglaublich. Der Athem
stockt dem Beschauer. Man streckt unwillkührlich die
Arme aus, um den blinden Greis vom Abgrund hinweg
zu ziehen, oder man wendet sich schnell ab, um nicht
Zeuge seines Sturzes zu seyn.

Da bei der bloßen Geschichtsmalerei die Kunst ei-
gentlich nach Brod geht, so hat auch Gerard, wie
Andere seines Gleichen, sich zum Portraitmalen herab-
gelassen; doch weis sein Genie jedes Portait zu einem
Tableau zu machen, das, Trotz der täuschenden Aehn-
lichkeit, den höhern bleibenden Werth durch seinen Pin-
sel erhält. Jch habe treffliche Gemälde der Art bei ihm
gesehen. Die Generalinn Mürat z. B., die Schwester
des ersten Konsuls, an einem Tische, halb stehend, halb
sitzend, und auf dem Tische eine Wiege, mit ihrem jüng-
sten schlummernden Kinde, und das ältere um ihre Kniee
spielend, beide Kinder völlig nackend. Auch Madame

Gerard.

Auch dieser brave Geschichtsmaler ist Dichter, das
beurkundet sein herrlicher Belisar: denn die hoͤchst
poetische Situation, in welche er auf diesem Bilde den
blinden Greis gesetzt hat, ist seine eigene gluͤckliche, doch
herzzerreißende Fiktion. Der Juͤngling, welcher dem Beli-
sar zum Fuͤhrer diente, ist, durch den Stich einer Schlan-
ge verwundert, gestorben. Belisar traͤgt ihn fort, die
Schlange haͤngt dem Juͤnglinge noch am Fuße; die Son-
ne ist eben im Untergehen begriffen. Der arme Blinde,
seines Fuͤhrers beraubt, hat in unwegsamen Gegenden
den Pfad verloren, die Nacht ist da, er sucht mit dem
Stocke seitwaͤrts einen Weg, und weis nicht, daß ge-
rade vor ihm ein Abgrund ist, dem er bereits ganz nahe
steht. Das Bild erschuͤttert unglaublich. Der Athem
stockt dem Beschauer. Man streckt unwillkuͤhrlich die
Arme aus, um den blinden Greis vom Abgrund hinweg
zu ziehen, oder man wendet sich schnell ab, um nicht
Zeuge seines Sturzes zu seyn.

Da bei der bloßen Geschichtsmalerei die Kunst ei-
gentlich nach Brod geht, so hat auch Gerard, wie
Andere seines Gleichen, sich zum Portraitmalen herab-
gelassen; doch weis sein Genie jedes Portait zu einem
Tableau zu machen, das, Trotz der taͤuschenden Aehn-
lichkeit, den hoͤhern bleibenden Werth durch seinen Pin-
sel erhaͤlt. Jch habe treffliche Gemaͤlde der Art bei ihm
gesehen. Die Generalinn Muͤrat z. B., die Schwester
des ersten Konsuls, an einem Tische, halb stehend, halb
sitzend, und auf dem Tische eine Wiege, mit ihrem juͤng-
sten schlummernden Kinde, und das aͤltere um ihre Kniee
spielend, beide Kinder voͤllig nackend. Auch Madame

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0046" n="46"/>
        <div n="2">
          <head>Gerard.</head><lb/>
          <p>Auch dieser brave Geschichtsmaler ist <hi rendition="#g">Dichter,</hi> das<lb/>
beurkundet sein herrlicher <hi rendition="#g">Belisar:</hi> denn die ho&#x0364;chst<lb/>
poetische Situation, in welche er auf diesem Bilde den<lb/>
blinden Greis gesetzt hat, ist seine eigene glu&#x0364;ckliche, doch<lb/>
herzzerreißende Fiktion. Der Ju&#x0364;ngling, welcher dem Beli-<lb/>
sar zum Fu&#x0364;hrer diente, ist, durch den Stich einer Schlan-<lb/>
ge verwundert, gestorben. Belisar tra&#x0364;gt ihn fort, die<lb/>
Schlange ha&#x0364;ngt dem Ju&#x0364;nglinge noch am Fuße; die Son-<lb/>
ne ist eben im Untergehen begriffen. Der arme Blinde,<lb/>
seines Fu&#x0364;hrers beraubt, hat in unwegsamen Gegenden<lb/>
den Pfad verloren, die Nacht ist da, er sucht mit dem<lb/>
Stocke seitwa&#x0364;rts einen Weg, und weis nicht, daß ge-<lb/>
rade vor ihm ein Abgrund ist, dem er bereits ganz nahe<lb/>
steht. Das Bild erschu&#x0364;ttert unglaublich. Der Athem<lb/>
stockt dem Beschauer. Man streckt unwillku&#x0364;hrlich die<lb/>
Arme aus, um den blinden Greis vom Abgrund hinweg<lb/>
zu ziehen, oder man wendet sich schnell ab, um nicht<lb/>
Zeuge seines Sturzes zu seyn.</p><lb/>
          <p>Da bei der bloßen Geschichtsmalerei die Kunst ei-<lb/>
gentlich nach Brod geht, so hat auch <hi rendition="#g">Gerard,</hi> wie<lb/>
Andere seines Gleichen, sich zum Portraitmalen herab-<lb/>
gelassen; doch weis sein Genie jedes Portait zu einem<lb/>
Tableau zu machen, das, Trotz der ta&#x0364;uschenden Aehn-<lb/>
lichkeit, den ho&#x0364;hern bleibenden Werth durch seinen Pin-<lb/>
sel erha&#x0364;lt. Jch habe treffliche Gema&#x0364;lde der Art bei ihm<lb/>
gesehen. Die Generalinn <hi rendition="#g">Mu&#x0364;rat</hi> z. B., die Schwester<lb/>
des ersten Konsuls, an einem Tische, halb stehend, halb<lb/>
sitzend, und auf dem Tische eine Wiege, mit ihrem ju&#x0364;ng-<lb/>
sten schlummernden Kinde, und das a&#x0364;ltere um ihre Kniee<lb/>
spielend, beide Kinder vo&#x0364;llig nackend. Auch Madame<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0046] Gerard. Auch dieser brave Geschichtsmaler ist Dichter, das beurkundet sein herrlicher Belisar: denn die hoͤchst poetische Situation, in welche er auf diesem Bilde den blinden Greis gesetzt hat, ist seine eigene gluͤckliche, doch herzzerreißende Fiktion. Der Juͤngling, welcher dem Beli- sar zum Fuͤhrer diente, ist, durch den Stich einer Schlan- ge verwundert, gestorben. Belisar traͤgt ihn fort, die Schlange haͤngt dem Juͤnglinge noch am Fuße; die Son- ne ist eben im Untergehen begriffen. Der arme Blinde, seines Fuͤhrers beraubt, hat in unwegsamen Gegenden den Pfad verloren, die Nacht ist da, er sucht mit dem Stocke seitwaͤrts einen Weg, und weis nicht, daß ge- rade vor ihm ein Abgrund ist, dem er bereits ganz nahe steht. Das Bild erschuͤttert unglaublich. Der Athem stockt dem Beschauer. Man streckt unwillkuͤhrlich die Arme aus, um den blinden Greis vom Abgrund hinweg zu ziehen, oder man wendet sich schnell ab, um nicht Zeuge seines Sturzes zu seyn. Da bei der bloßen Geschichtsmalerei die Kunst ei- gentlich nach Brod geht, so hat auch Gerard, wie Andere seines Gleichen, sich zum Portraitmalen herab- gelassen; doch weis sein Genie jedes Portait zu einem Tableau zu machen, das, Trotz der taͤuschenden Aehn- lichkeit, den hoͤhern bleibenden Werth durch seinen Pin- sel erhaͤlt. Jch habe treffliche Gemaͤlde der Art bei ihm gesehen. Die Generalinn Muͤrat z. B., die Schwester des ersten Konsuls, an einem Tische, halb stehend, halb sitzend, und auf dem Tische eine Wiege, mit ihrem juͤng- sten schlummernden Kinde, und das aͤltere um ihre Kniee spielend, beide Kinder voͤllig nackend. Auch Madame

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/46
Zitationshilfe: Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/46>, abgerufen am 21.11.2024.