hannes bei Seite und erinnerte ihn an etwas, was dieser bereits vergessen hatte.
"Wissen Sie, lieber Herr Timpe," sagte er leise, "ich kann Ihnen noch nicht alles auf einmal wiedergeben, aber die Hälfte habe ich mitgebracht. Sie werden es gewiß jetzt selbst gebrauchen. . . . Man erzählt sich so mancherlei . . . aber Sie thun ganz recht daran, den Leuten etwas aufzubinden. Wenn mich heute Jemand fragt, wie es geht, so sage ich ihm ein¬ fach: ich müßte mich von früh bis spät quälen, weil meine zwanzig Gesellen die Arbeit nicht mehr schaffen könnten. Dann wundert sich kein Mensch mehr über meine schwarzen Hände und die ewige Lampe in meiner Werkstatt. Nur dem Steuermann klage ich nach Noten meinen Dalles, denn der gehört zu den Leuten, denen ich nicht traue. . . Ich würde gerne mitgehen zum Begräbniß, lieber Herr Timpe, aber die "Goldene Hundertzehn" hat keinen passenden Anzug für mich gefunden, und mein alter Schneider ist jetzt selbst so arm, daß ich ihm jedesmal aus dem Wege gehe, denn ich fürchte, er könnte mich anpumpen."
Timpe wollte nach diesen Worten das Geld nicht nehmen; aber Nölte rief die Todte zum Zeugen an, daß er im Weigerungsfalle dem Meister die Freundschaft kündigen werde. Da es gerade nach Tisch war, so bekamen die Kinder Kaffee und zwei Schnitten Brod, die Marie Beyer so dick mit Butter bestrichen hatte, daß Nölte meinte, es sei jammerschade, denn man könnte mindestens sechs damit bestreichen.
Es war an einem Wintertage. Um vier Uhr sollte das Begräbniß stattfinden. Gerade als man Anstalten machen wollte, den Sarg zuzuschrauben, wurde die Thür geöffnet und
hannes bei Seite und erinnerte ihn an etwas, was dieſer bereits vergeſſen hatte.
„Wiſſen Sie, lieber Herr Timpe,“ ſagte er leiſe, „ich kann Ihnen noch nicht alles auf einmal wiedergeben, aber die Hälfte habe ich mitgebracht. Sie werden es gewiß jetzt ſelbſt gebrauchen. . . . Man erzählt ſich ſo mancherlei . . . aber Sie thun ganz recht daran, den Leuten etwas aufzubinden. Wenn mich heute Jemand fragt, wie es geht, ſo ſage ich ihm ein¬ fach: ich müßte mich von früh bis ſpät quälen, weil meine zwanzig Geſellen die Arbeit nicht mehr ſchaffen könnten. Dann wundert ſich kein Menſch mehr über meine ſchwarzen Hände und die ewige Lampe in meiner Werkſtatt. Nur dem Steuermann klage ich nach Noten meinen Dalles, denn der gehört zu den Leuten, denen ich nicht traue. . . Ich würde gerne mitgehen zum Begräbniß, lieber Herr Timpe, aber die „Goldene Hundertzehn“ hat keinen paſſenden Anzug für mich gefunden, und mein alter Schneider iſt jetzt ſelbſt ſo arm, daß ich ihm jedesmal aus dem Wege gehe, denn ich fürchte, er könnte mich anpumpen.“
Timpe wollte nach dieſen Worten das Geld nicht nehmen; aber Nölte rief die Todte zum Zeugen an, daß er im Weigerungsfalle dem Meiſter die Freundſchaft kündigen werde. Da es gerade nach Tiſch war, ſo bekamen die Kinder Kaffee und zwei Schnitten Brod, die Marie Beyer ſo dick mit Butter beſtrichen hatte, daß Nölte meinte, es ſei jammerſchade, denn man könnte mindeſtens ſechs damit beſtreichen.
Es war an einem Wintertage. Um vier Uhr ſollte das Begräbniß ſtattfinden. Gerade als man Anſtalten machen wollte, den Sarg zuzuſchrauben, wurde die Thür geöffnet und
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0261"n="249"/>
hannes bei Seite und erinnerte ihn an etwas, was dieſer<lb/>
bereits vergeſſen hatte.</p><lb/><p>„Wiſſen Sie, lieber Herr Timpe,“ſagte er leiſe, „ich<lb/>
kann Ihnen noch nicht alles auf einmal wiedergeben, aber<lb/>
die Hälfte habe ich mitgebracht. Sie werden es gewiß jetzt<lb/>ſelbſt gebrauchen. . . . Man erzählt ſich ſo mancherlei . . . aber Sie<lb/>
thun ganz recht daran, den Leuten etwas aufzubinden. Wenn<lb/>
mich heute Jemand fragt, wie es geht, ſo ſage ich ihm ein¬<lb/>
fach: ich müßte mich von früh bis ſpät quälen, weil meine<lb/>
zwanzig Geſellen die Arbeit nicht mehr ſchaffen könnten.<lb/>
Dann wundert ſich kein Menſch mehr über meine ſchwarzen<lb/>
Hände und die ewige Lampe in meiner Werkſtatt. Nur dem<lb/>
Steuermann klage ich nach Noten meinen Dalles, denn der<lb/>
gehört zu den Leuten, denen ich nicht traue. . . Ich würde<lb/>
gerne mitgehen zum Begräbniß, lieber Herr Timpe, aber die<lb/>„Goldene Hundertzehn“ hat keinen paſſenden Anzug für mich<lb/>
gefunden, und mein alter Schneider iſt jetzt ſelbſt ſo arm,<lb/>
daß ich ihm jedesmal aus dem Wege gehe, denn ich fürchte,<lb/>
er könnte mich anpumpen.“</p><lb/><p>Timpe wollte nach dieſen Worten das Geld nicht<lb/>
nehmen; aber Nölte rief die Todte zum Zeugen an, daß<lb/>
er im Weigerungsfalle dem Meiſter die Freundſchaft<lb/>
kündigen werde. Da es gerade nach Tiſch war, ſo bekamen<lb/>
die Kinder Kaffee und zwei Schnitten Brod, die Marie<lb/>
Beyer ſo dick mit Butter beſtrichen hatte, daß Nölte meinte,<lb/>
es ſei jammerſchade, denn man könnte mindeſtens ſechs damit<lb/>
beſtreichen.</p><lb/><p>Es war an einem Wintertage. Um vier Uhr ſollte das<lb/>
Begräbniß ſtattfinden. Gerade als man Anſtalten machen<lb/>
wollte, den Sarg zuzuſchrauben, wurde die Thür geöffnet und<lb/></p></div></body></text></TEI>
[249/0261]
hannes bei Seite und erinnerte ihn an etwas, was dieſer
bereits vergeſſen hatte.
„Wiſſen Sie, lieber Herr Timpe,“ ſagte er leiſe, „ich
kann Ihnen noch nicht alles auf einmal wiedergeben, aber
die Hälfte habe ich mitgebracht. Sie werden es gewiß jetzt
ſelbſt gebrauchen. . . . Man erzählt ſich ſo mancherlei . . . aber Sie
thun ganz recht daran, den Leuten etwas aufzubinden. Wenn
mich heute Jemand fragt, wie es geht, ſo ſage ich ihm ein¬
fach: ich müßte mich von früh bis ſpät quälen, weil meine
zwanzig Geſellen die Arbeit nicht mehr ſchaffen könnten.
Dann wundert ſich kein Menſch mehr über meine ſchwarzen
Hände und die ewige Lampe in meiner Werkſtatt. Nur dem
Steuermann klage ich nach Noten meinen Dalles, denn der
gehört zu den Leuten, denen ich nicht traue. . . Ich würde
gerne mitgehen zum Begräbniß, lieber Herr Timpe, aber die
„Goldene Hundertzehn“ hat keinen paſſenden Anzug für mich
gefunden, und mein alter Schneider iſt jetzt ſelbſt ſo arm,
daß ich ihm jedesmal aus dem Wege gehe, denn ich fürchte,
er könnte mich anpumpen.“
Timpe wollte nach dieſen Worten das Geld nicht
nehmen; aber Nölte rief die Todte zum Zeugen an, daß
er im Weigerungsfalle dem Meiſter die Freundſchaft
kündigen werde. Da es gerade nach Tiſch war, ſo bekamen
die Kinder Kaffee und zwei Schnitten Brod, die Marie
Beyer ſo dick mit Butter beſtrichen hatte, daß Nölte meinte,
es ſei jammerſchade, denn man könnte mindeſtens ſechs damit
beſtreichen.
Es war an einem Wintertage. Um vier Uhr ſollte das
Begräbniß ſtattfinden. Gerade als man Anſtalten machen
wollte, den Sarg zuzuſchrauben, wurde die Thür geöffnet und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/261>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.