Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

Mit jeder Strophe verdoppelten sich die Sänger und
die Erde schien zu erzittern unter den Tritten der Massen,
die mit schwerem Taktschritt dem Ausgange zuströmten, als
ginge es zum Kampfplatz.

An der geöffneten Thür staute der dunkle Strom sich.
Ein Trupp fremder Arbeiter war soeben im Flur angelangt
und brachte die Nachricht vom Wahlsiege. Ein donnerndes
Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Gesang
und setzte sich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche
Schutzleute erschienen wie aus der Erde gewachsen; Rufe zur
Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erst all¬
mälig wie der verhallende Donner eines schweren Wetters
legte sich die Aufregung der erhitzten Menge.

Timpe stand noch immer wie versteinert auf dem Podium.
Der Vorsitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe;
er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige
Fragen an ihn; er beantwortete sie mechanisch. Die Leute
um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am
Tische. Gefühllos wie ein Nachtwandler stieg er die Stufen
hinab. Da sah er seinen Sohn, wie er zögernd mit seinem
Begleiter stehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand
entlang der Thür zuschritt. Den Meister packte ein
Schwindel. In seinem Hirn begann es zu kreisen, die
Menschen standen auf den Köpfen, die Lichter führten einen
tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal sich um
ihn herum. Er schloß die Augen . . .

Er hielt plötzlich seinen Sohn an der Kehle und zerrte
ihn nieder. Die Kräfte eines Riesen schienen über ihn ge¬
kommen zu sein. Immer fester schlossen die Hände sich, immer
bleicher und willenloser wurde sein Opfer. "Gieb mir meinen

Mit jeder Strophe verdoppelten ſich die Sänger und
die Erde ſchien zu erzittern unter den Tritten der Maſſen,
die mit ſchwerem Taktſchritt dem Ausgange zuſtrömten, als
ginge es zum Kampfplatz.

An der geöffneten Thür ſtaute der dunkle Strom ſich.
Ein Trupp fremder Arbeiter war ſoeben im Flur angelangt
und brachte die Nachricht vom Wahlſiege. Ein donnerndes
Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Geſang
und ſetzte ſich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche
Schutzleute erſchienen wie aus der Erde gewachſen; Rufe zur
Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erſt all¬
mälig wie der verhallende Donner eines ſchweren Wetters
legte ſich die Aufregung der erhitzten Menge.

Timpe ſtand noch immer wie verſteinert auf dem Podium.
Der Vorſitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe;
er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige
Fragen an ihn; er beantwortete ſie mechaniſch. Die Leute
um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am
Tiſche. Gefühllos wie ein Nachtwandler ſtieg er die Stufen
hinab. Da ſah er ſeinen Sohn, wie er zögernd mit ſeinem
Begleiter ſtehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand
entlang der Thür zuſchritt. Den Meiſter packte ein
Schwindel. In ſeinem Hirn begann es zu kreiſen, die
Menſchen ſtanden auf den Köpfen, die Lichter führten einen
tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal ſich um
ihn herum. Er ſchloß die Augen . . .

Er hielt plötzlich ſeinen Sohn an der Kehle und zerrte
ihn nieder. Die Kräfte eines Rieſen ſchienen über ihn ge¬
kommen zu ſein. Immer feſter ſchloſſen die Hände ſich, immer
bleicher und willenloſer wurde ſein Opfer. „Gieb mir meinen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0311" n="299"/>
        <p>Mit jeder Strophe verdoppelten &#x017F;ich die Sänger und<lb/>
die Erde &#x017F;chien zu erzittern unter den Tritten der Ma&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
die mit &#x017F;chwerem Takt&#x017F;chritt dem Ausgange zu&#x017F;trömten, als<lb/>
ginge es zum Kampfplatz.</p><lb/>
        <p>An der geöffneten Thür &#x017F;taute der dunkle Strom &#x017F;ich.<lb/>
Ein Trupp fremder Arbeiter war &#x017F;oeben im Flur angelangt<lb/>
und brachte die Nachricht vom Wahl&#x017F;iege. Ein donnerndes<lb/>
Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Ge&#x017F;ang<lb/>
und &#x017F;etzte &#x017F;ich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche<lb/>
Schutzleute er&#x017F;chienen wie aus der Erde gewach&#x017F;en; Rufe zur<lb/>
Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und er&#x017F;t all¬<lb/>
mälig wie der verhallende Donner eines &#x017F;chweren Wetters<lb/>
legte &#x017F;ich die Aufregung der erhitzten Menge.</p><lb/>
        <p>Timpe &#x017F;tand noch immer wie ver&#x017F;teinert auf dem Podium.<lb/>
Der Vor&#x017F;itzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe;<lb/>
er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige<lb/>
Fragen an ihn; er beantwortete &#x017F;ie mechani&#x017F;ch. Die Leute<lb/>
um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am<lb/>
Ti&#x017F;che. Gefühllos wie ein Nachtwandler &#x017F;tieg er die Stufen<lb/>
hinab. Da &#x017F;ah er &#x017F;einen Sohn, wie er zögernd mit &#x017F;einem<lb/>
Begleiter &#x017F;tehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand<lb/>
entlang der Thür zu&#x017F;chritt. Den Mei&#x017F;ter packte ein<lb/>
Schwindel. In &#x017F;einem Hirn begann es zu krei&#x017F;en, die<lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;tanden auf den Köpfen, die Lichter führten einen<lb/>
tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal &#x017F;ich um<lb/>
ihn herum. Er &#x017F;chloß die Augen . . .</p><lb/>
        <p>Er hielt plötzlich &#x017F;einen Sohn an der Kehle und zerrte<lb/>
ihn nieder. Die Kräfte eines Rie&#x017F;en &#x017F;chienen über ihn ge¬<lb/>
kommen zu &#x017F;ein. Immer fe&#x017F;ter &#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en die Hände &#x017F;ich, immer<lb/>
bleicher und willenlo&#x017F;er wurde &#x017F;ein Opfer. &#x201E;Gieb mir meinen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[299/0311] Mit jeder Strophe verdoppelten ſich die Sänger und die Erde ſchien zu erzittern unter den Tritten der Maſſen, die mit ſchwerem Taktſchritt dem Ausgange zuſtrömten, als ginge es zum Kampfplatz. An der geöffneten Thür ſtaute der dunkle Strom ſich. Ein Trupp fremder Arbeiter war ſoeben im Flur angelangt und brachte die Nachricht vom Wahlſiege. Ein donnerndes Lebehoch auf den neuen Abgeordneten durchbrach den Geſang und ſetzte ſich bis auf Hof und Straße fort. Zahlreiche Schutzleute erſchienen wie aus der Erde gewachſen; Rufe zur Ordnung ertönten, Gelächter war die Antwort; und erſt all¬ mälig wie der verhallende Donner eines ſchweren Wetters legte ſich die Aufregung der erhitzten Menge. Timpe ſtand noch immer wie verſteinert auf dem Podium. Der Vorſitzende redete auf ihn ein, machte ihm Vorwürfe; er hörte nicht. Dann richtete der Polizeilieutenant einige Fragen an ihn; er beantwortete ſie mechaniſch. Die Leute um ihn herum verließen ihn, aber noch immer lehnte er am Tiſche. Gefühllos wie ein Nachtwandler ſtieg er die Stufen hinab. Da ſah er ſeinen Sohn, wie er zögernd mit ſeinem Begleiter ſtehen blieb, aus ihn blickte, dann aber die Wand entlang der Thür zuſchritt. Den Meiſter packte ein Schwindel. In ſeinem Hirn begann es zu kreiſen, die Menſchen ſtanden auf den Köpfen, die Lichter führten einen tollen Tanz auf und zuletzt drehte der ganze Saal ſich um ihn herum. Er ſchloß die Augen . . . Er hielt plötzlich ſeinen Sohn an der Kehle und zerrte ihn nieder. Die Kräfte eines Rieſen ſchienen über ihn ge¬ kommen zu ſein. Immer feſter ſchloſſen die Hände ſich, immer bleicher und willenloſer wurde ſein Opfer. „Gieb mir meinen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/311
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/311>, abgerufen am 24.11.2024.