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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Wir betrugen uns still und einsam in dem Menschenhaufen. Das
camp-meeting, so manche Woche zuvor der Gegenstand unserer Unter¬
haltung, gab uns in dieser ersten Stunde nicht zu reden von sich.
Indem wir mitten drinn standen, verloren wir keine Sylbe darüber.
Annette machte große offene Augen zu Allem, aber der Blick drückte
fast Schrecken aus. Sie sah überall umher und lief nirgend hinzu.
Sie entfernte sich keinen Schritt von unserer Seite. Es kam mir
nicht vor, als ob sie viel nach Gespielen und Blumensaamen Lust hätte.

Als die Sonne den höchsten Stand hatte, bestieg ein langer,
schwarzer reverend die Predigerkanzel, sein Clerk neben ihm zog die
Glocke. Alles strömte in die Wagenburg. Ein Mensch im geistlichen
Rock trennte am Eingange die Geschlechter, insofern sie der Ordnung
unkundig waren -- Annette wurde fast gewaltsam in die weibliche
Abtheilung gezogen. Als schiene ihr der Schutz einer schüchternen
deutschen Frau nicht genügend in dieser Verbannung, blickte sie angst¬
voll nach uns hinüber und zeigte sich sehr aufgeregt. Mein dumpfes
Ahnungsgefühl wurde bei diesem Anblicke um nichts deutlicher, aber
um vieles schwerer und drückender. Ich sagte dem Meier (nur mit an¬
dern Worten) sein zartes Kind scheine mir nicht gemacht, diese Feier¬
lichkeit Wochenlang auszuhalten. Er antwortete, man hätte ihm gesagt,
später lasse die ganze Ceremonie nach und in den letzten Tagen sei
es nur noch eine Geschäftsbörse der Landschaft.

Der Prediger auf der Tribüne verkündigte den Leuten, daß er bei
Gelegenheit des Mittags sie zum Tischgebet versammelt habe und mit
dieser ersten Andacht erkläre er denn das camp-meeting für eröffnet.
Hierauf stimmte er ein Lied an, in das die Gemeinde einfiel -- was
soll ich sagen? Wenn ich in diesem Lande der Graßheiten noch er¬
staunen könnte, so wäre ich aus den Wolken gefallen. Die Methodisten
sangen ihren Bußgesang nach der Weise:

Mihi est propositium
In taberna mori!
Es ist bekannt, daß das sangesarme Volk der Yankees seine Kirchen¬
lieder den weltlichen Melodien der eingewanderten Deutschen nachbildet.
Diese musikalische Anleihe setzte mich aber doch außer Fassung. Herr
Ermar wurde lutherisch roth dabei und brummte mir zu: Das Predi¬
gen wäre die Hauptsache bei den Methodisten Als das Lied zu Ende

Wir betrugen uns ſtill und einſam in dem Menſchenhaufen. Das
camp-meeting, ſo manche Woche zuvor der Gegenſtand unſerer Unter¬
haltung, gab uns in dieſer erſten Stunde nicht zu reden von ſich.
Indem wir mitten drinn ſtanden, verloren wir keine Sylbe darüber.
Annette machte große offene Augen zu Allem, aber der Blick drückte
faſt Schrecken aus. Sie ſah überall umher und lief nirgend hinzu.
Sie entfernte ſich keinen Schritt von unſerer Seite. Es kam mir
nicht vor, als ob ſie viel nach Geſpielen und Blumenſaamen Luſt hätte.

Als die Sonne den höchſten Stand hatte, beſtieg ein langer,
ſchwarzer reverend die Predigerkanzel, ſein Clerk neben ihm zog die
Glocke. Alles ſtrömte in die Wagenburg. Ein Menſch im geiſtlichen
Rock trennte am Eingange die Geſchlechter, inſofern ſie der Ordnung
unkundig waren — Annette wurde faſt gewaltſam in die weibliche
Abtheilung gezogen. Als ſchiene ihr der Schutz einer ſchüchternen
deutſchen Frau nicht genügend in dieſer Verbannung, blickte ſie angſt¬
voll nach uns hinüber und zeigte ſich ſehr aufgeregt. Mein dumpfes
Ahnungsgefühl wurde bei dieſem Anblicke um nichts deutlicher, aber
um vieles ſchwerer und drückender. Ich ſagte dem Meier (nur mit an¬
dern Worten) ſein zartes Kind ſcheine mir nicht gemacht, dieſe Feier¬
lichkeit Wochenlang auszuhalten. Er antwortete, man hätte ihm geſagt,
ſpäter laſſe die ganze Ceremonie nach und in den letzten Tagen ſei
es nur noch eine Geſchäftsbörſe der Landſchaft.

Der Prediger auf der Tribüne verkündigte den Leuten, daß er bei
Gelegenheit des Mittags ſie zum Tiſchgebet verſammelt habe und mit
dieſer erſten Andacht erkläre er denn das camp-meeting für eröffnet.
Hierauf ſtimmte er ein Lied an, in das die Gemeinde einfiel — was
ſoll ich ſagen? Wenn ich in dieſem Lande der Graßheiten noch er¬
ſtaunen könnte, ſo wäre ich aus den Wolken gefallen. Die Methodiſten
ſangen ihren Bußgeſang nach der Weiſe:

Mihi est propositium
In taberna mori!
Es iſt bekannt, daß das ſangesarme Volk der Yankees ſeine Kirchen¬
lieder den weltlichen Melodien der eingewanderten Deutſchen nachbildet.
Dieſe muſikaliſche Anleihe ſetzte mich aber doch außer Faſſung. Herr
Ermar wurde lutheriſch roth dabei und brummte mir zu: Das Predi¬
gen wäre die Hauptſache bei den Methodiſten Als das Lied zu Ende

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[383/0401] Wir betrugen uns ſtill und einſam in dem Menſchenhaufen. Das camp-meeting, ſo manche Woche zuvor der Gegenſtand unſerer Unter¬ haltung, gab uns in dieſer erſten Stunde nicht zu reden von ſich. Indem wir mitten drinn ſtanden, verloren wir keine Sylbe darüber. Annette machte große offene Augen zu Allem, aber der Blick drückte faſt Schrecken aus. Sie ſah überall umher und lief nirgend hinzu. Sie entfernte ſich keinen Schritt von unſerer Seite. Es kam mir nicht vor, als ob ſie viel nach Geſpielen und Blumenſaamen Luſt hätte. Als die Sonne den höchſten Stand hatte, beſtieg ein langer, ſchwarzer reverend die Predigerkanzel, ſein Clerk neben ihm zog die Glocke. Alles ſtrömte in die Wagenburg. Ein Menſch im geiſtlichen Rock trennte am Eingange die Geſchlechter, inſofern ſie der Ordnung unkundig waren — Annette wurde faſt gewaltſam in die weibliche Abtheilung gezogen. Als ſchiene ihr der Schutz einer ſchüchternen deutſchen Frau nicht genügend in dieſer Verbannung, blickte ſie angſt¬ voll nach uns hinüber und zeigte ſich ſehr aufgeregt. Mein dumpfes Ahnungsgefühl wurde bei dieſem Anblicke um nichts deutlicher, aber um vieles ſchwerer und drückender. Ich ſagte dem Meier (nur mit an¬ dern Worten) ſein zartes Kind ſcheine mir nicht gemacht, dieſe Feier¬ lichkeit Wochenlang auszuhalten. Er antwortete, man hätte ihm geſagt, ſpäter laſſe die ganze Ceremonie nach und in den letzten Tagen ſei es nur noch eine Geſchäftsbörſe der Landſchaft. Der Prediger auf der Tribüne verkündigte den Leuten, daß er bei Gelegenheit des Mittags ſie zum Tiſchgebet verſammelt habe und mit dieſer erſten Andacht erkläre er denn das camp-meeting für eröffnet. Hierauf ſtimmte er ein Lied an, in das die Gemeinde einfiel — was ſoll ich ſagen? Wenn ich in dieſem Lande der Graßheiten noch er¬ ſtaunen könnte, ſo wäre ich aus den Wolken gefallen. Die Methodiſten ſangen ihren Bußgeſang nach der Weiſe: Mihi est propositium In taberna mori! Es iſt bekannt, daß das ſangesarme Volk der Yankees ſeine Kirchen¬ lieder den weltlichen Melodien der eingewanderten Deutſchen nachbildet. Dieſe muſikaliſche Anleihe ſetzte mich aber doch außer Faſſung. Herr Ermar wurde lutheriſch roth dabei und brummte mir zu: Das Predi¬ gen wäre die Hauptſache bei den Methodiſten Als das Lied zu Ende

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/401>, abgerufen am 24.11.2024.