Menschen, der so oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben, der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier seine Kugel auf ihn abgeschossen hatte. In diesem unbedeutenden Menschen sah er Alle versammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleise gedrängt und endlich von der Bahn seiner rechtmäßigen Ansprüche hinabgestoßen hatten.
Er sah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens schmausen und sich selbst in die Wildniß hinausgestoßen. Und waren die Unschuldigen, welche seiner rettungslosen Verzweiflung noch zum Opfer fallen sollten, von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren sie nicht eines Schuldopfers werth? Hier stand Einer seiner Kugel preisgegeben, der sich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Mensch sich wünscht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬ sellschaft eine gewisse Weihe erhalten sollte, so winkte ihm hier an der Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er sich, um Recht und Gerechtigkeit betrogen, so hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener Sache zu sein, daß er sein neues Leben nicht besser einweihen zu können meinte. Warum zögerte sein Finger am Drücker?
Viermal zielte er und viermal setzte er wieder ab.
Der Mensch, wer er auch sei, trifft Stunden in seinem Leben, wo er tief in sich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des Wahnsinns in ihm schlummert, die zu Zeiten erwacht. Es steht Einer im Gebirge an einer jähen, schwindelnden Felsenwand, da taucht plötz¬ lich die Stimme in ihm auf und sagt ihm: Spring' da hinab. Oder er hat einen Freund bei sich, der ihm nie etwas zu Leid gethan, der sich ihm als feuerfest erwiesen hat; die Stimme sagt: Gib ihm einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menschliche Gesellschaft, die für ihren Bestand zu sorgen hat, macht mit Recht den Menschen ver¬ antwortlich, damit er dieser Stimme nicht gehorcht. Wer in seiner gesunden Kraft wandelt, der kämpft sie leicht nieder und lächelt über sie, wie der Mensch über die Sprünge seines thierischen Zerrbildes lächelt. Wo aber Leidenschaft, wo Haß und Rache die Stimme beflügeln, da wird der Kampf schwerer. Und doch wird Jeder, der in den dunkelsten Stunden seines Lebens sein menschlich Theil gerettet oder verloren hat, Zeugniß geben, daß eine innere Bewegung mit der Gewalt einer unsichtbaren Macht eingegriffen und seiner Hand
Menſchen, der ſo oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben, der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier ſeine Kugel auf ihn abgeſchoſſen hatte. In dieſem unbedeutenden Menſchen ſah er Alle verſammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleiſe gedrängt und endlich von der Bahn ſeiner rechtmäßigen Anſprüche hinabgeſtoßen hatten.
Er ſah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens ſchmauſen und ſich ſelbſt in die Wildniß hinausgeſtoßen. Und waren die Unſchuldigen, welche ſeiner rettungsloſen Verzweiflung noch zum Opfer fallen ſollten, von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren ſie nicht eines Schuldopfers werth? Hier ſtand Einer ſeiner Kugel preisgegeben, der ſich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Menſch ſich wünſcht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬ ſellſchaft eine gewiſſe Weihe erhalten ſollte, ſo winkte ihm hier an der Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er ſich, um Recht und Gerechtigkeit betrogen, ſo hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener Sache zu ſein, daß er ſein neues Leben nicht beſſer einweihen zu können meinte. Warum zögerte ſein Finger am Drücker?
Viermal zielte er und viermal ſetzte er wieder ab.
Der Menſch, wer er auch ſei, trifft Stunden in ſeinem Leben, wo er tief in ſich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des Wahnſinns in ihm ſchlummert, die zu Zeiten erwacht. Es ſteht Einer im Gebirge an einer jähen, ſchwindelnden Felſenwand, da taucht plötz¬ lich die Stimme in ihm auf und ſagt ihm: Spring' da hinab. Oder er hat einen Freund bei ſich, der ihm nie etwas zu Leid gethan, der ſich ihm als feuerfeſt erwieſen hat; die Stimme ſagt: Gib ihm einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menſchliche Geſellſchaft, die für ihren Beſtand zu ſorgen hat, macht mit Recht den Menſchen ver¬ antwortlich, damit er dieſer Stimme nicht gehorcht. Wer in ſeiner geſunden Kraft wandelt, der kämpft ſie leicht nieder und lächelt über ſie, wie der Menſch über die Sprünge ſeines thieriſchen Zerrbildes lächelt. Wo aber Leidenſchaft, wo Haß und Rache die Stimme beflügeln, da wird der Kampf ſchwerer. Und doch wird Jeder, der in den dunkelſten Stunden ſeines Lebens ſein menſchlich Theil gerettet oder verloren hat, Zeugniß geben, daß eine innere Bewegung mit der Gewalt einer unſichtbaren Macht eingegriffen und ſeiner Hand
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Menſchen, der ſo oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben,
der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier ſeine Kugel
auf ihn abgeſchoſſen hatte. In dieſem unbedeutenden Menſchen ſah
er Alle verſammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleiſe gedrängt
und endlich von der Bahn ſeiner rechtmäßigen Anſprüche hinabgeſtoßen hatten.
Er ſah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens ſchmauſen und
ſich ſelbſt in die Wildniß hinausgeſtoßen. Und waren die Unſchuldigen,
welche ſeiner rettungsloſen Verzweiflung noch zum Opfer fallen ſollten,
von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren ſie nicht
eines Schuldopfers werth? Hier ſtand Einer ſeiner Kugel preisgegeben,
der ſich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der
Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Menſch
ſich wünſcht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬
ſellſchaft eine gewiſſe Weihe erhalten ſollte, ſo winkte ihm hier an der
Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er ſich, um Recht und
Gerechtigkeit betrogen, ſo hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener
Sache zu ſein, daß er ſein neues Leben nicht beſſer einweihen zu können
meinte. Warum zögerte ſein Finger am Drücker?
Viermal zielte er und viermal ſetzte er wieder ab.
Der Menſch, wer er auch ſei, trifft Stunden in ſeinem Leben, wo
er tief in ſich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des
Wahnſinns in ihm ſchlummert, die zu Zeiten erwacht. Es ſteht Einer
im Gebirge an einer jähen, ſchwindelnden Felſenwand, da taucht plötz¬
lich die Stimme in ihm auf und ſagt ihm: Spring' da hinab.
Oder er hat einen Freund bei ſich, der ihm nie etwas zu Leid gethan,
der ſich ihm als feuerfeſt erwieſen hat; die Stimme ſagt: Gib ihm
einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menſchliche Geſellſchaft, die
für ihren Beſtand zu ſorgen hat, macht mit Recht den Menſchen ver¬
antwortlich, damit er dieſer Stimme nicht gehorcht. Wer in ſeiner
geſunden Kraft wandelt, der kämpft ſie leicht nieder und lächelt über
ſie, wie der Menſch über die Sprünge ſeines thieriſchen Zerrbildes
lächelt. Wo aber Leidenſchaft, wo Haß und Rache die Stimme
beflügeln, da wird der Kampf ſchwerer. Und doch wird Jeder,
der in den dunkelſten Stunden ſeines Lebens ſein menſchlich Theil
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/453>, abgerufen am 22.11.2024.
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