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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 7. Das Reich als Rechtssubject.
zugleich als eine willkührliche 1). Besteht aber der Zweck jeder
juristischen Construktion darin, ein einheitliches Prinzip für
die rechtliche Beurtheilung eines Inbegriffs von Thatbeständen und
Rechtsbeziehungen zu finden, so erweist sich jene künstliche und
willkührliche Construktion als unmöglich, wenn unter den dem
Reich zustehenden Gerechtsamen auch solche sich befinden, welche nicht
als die Ausübung fremder Rechte aufgefaßt werden können. Solche
Rechte hat das Reich in der That und zwar sowohl gegen die
Angehörigen des Reiches als an dem Gebiet. Es wird unten
näher ausgeführt werden, daß es Unterthanenpflichten gegen das
Reich giebt, sowohl zum staatsbürgerlichen Gehorsam als zur staats-
bürgerlichen Treue, die nach Inhalt und Wesen verschieden sind
von den Unterthanenpflichten gegen die Einzelstaaten, und daß dem
Reiche am Bundesgebiet als Einheit eine Gebietshoheit zukömmt,
welche sich sehr bestimmt unterscheiden läßt von der Staatsgewalt
des Einzelstaates an seinem Landesgebiete.

4. Endlich fällt für die selbstständige Willens- und Rechts-
fähigkeit, also für die Persönlichkeit des Reiches der Umstand ins
Gewicht, daß dasselbe durch einen Majoritätsbeschluß und in der
Form eines Gesetzes seine eigene Zuständigkeit nach Art. 78 Abs.
1. erweitern kann 2).

Schon die im Art. 4 dem Reiche zugewiesene Competenz ist
eine so umfassende, daß es fast keine Seite des staatlichen Lebens
giebt, die nicht von ihr direct oder indirect betroffen wird. Für
die Annahme eines bloß vertragsmäßigen Verhältnißes der Deut-
schen Staaten zur gemeinsamen Ausübung gewisser Hoheitsrechte
ist schon diese Kompetenz von zu unbestimmter Begrenzung, von
zu ungemessener Dehnbarkeit. Daß hier der Einzelstaat auf seine
individuelle Einwilligung verzichtet und die Entschließung der
Majorität von Bundesrath und Reichstag als die ihn bindende
Norm anerkennt, ist bereits die Schaffung einer höheren, über
dem Willen des Einzelstaates stehenden Willensmacht. Die Ge-
sammtheit der im Art. 4 dem Reiche zugewiesenen Angelegenheiten
läßt sich nicht mehr als eine Auslese einzelner Staatsaufgaben

1) Hänel a. a. O.
2) Vgl. über diese Befugniß des Reiches, die demselben eine Zeit lang
bestritten worden ist, unten bei der Lehre von der Reichsgesetzgebung.
5*

§. 7. Das Reich als Rechtsſubject.
zugleich als eine willkührliche 1). Beſteht aber der Zweck jeder
juriſtiſchen Conſtruktion darin, ein einheitliches Prinzip für
die rechtliche Beurtheilung eines Inbegriffs von Thatbeſtänden und
Rechtsbeziehungen zu finden, ſo erweiſt ſich jene künſtliche und
willkührliche Conſtruktion als unmöglich, wenn unter den dem
Reich zuſtehenden Gerechtſamen auch ſolche ſich befinden, welche nicht
als die Ausübung fremder Rechte aufgefaßt werden können. Solche
Rechte hat das Reich in der That und zwar ſowohl gegen die
Angehörigen des Reiches als an dem Gebiet. Es wird unten
näher ausgeführt werden, daß es Unterthanenpflichten gegen das
Reich giebt, ſowohl zum ſtaatsbürgerlichen Gehorſam als zur ſtaats-
bürgerlichen Treue, die nach Inhalt und Weſen verſchieden ſind
von den Unterthanenpflichten gegen die Einzelſtaaten, und daß dem
Reiche am Bundesgebiet als Einheit eine Gebietshoheit zukömmt,
welche ſich ſehr beſtimmt unterſcheiden läßt von der Staatsgewalt
des Einzelſtaates an ſeinem Landesgebiete.

4. Endlich fällt für die ſelbſtſtändige Willens- und Rechts-
fähigkeit, alſo für die Perſönlichkeit des Reiches der Umſtand ins
Gewicht, daß daſſelbe durch einen Majoritätsbeſchluß und in der
Form eines Geſetzes ſeine eigene Zuſtändigkeit nach Art. 78 Abſ.
1. erweitern kann 2).

Schon die im Art. 4 dem Reiche zugewieſene Competenz iſt
eine ſo umfaſſende, daß es faſt keine Seite des ſtaatlichen Lebens
giebt, die nicht von ihr direct oder indirect betroffen wird. Für
die Annahme eines bloß vertragsmäßigen Verhältnißes der Deut-
ſchen Staaten zur gemeinſamen Ausübung gewiſſer Hoheitsrechte
iſt ſchon dieſe Kompetenz von zu unbeſtimmter Begrenzung, von
zu ungemeſſener Dehnbarkeit. Daß hier der Einzelſtaat auf ſeine
individuelle Einwilligung verzichtet und die Entſchließung der
Majorität von Bundesrath und Reichstag als die ihn bindende
Norm anerkennt, iſt bereits die Schaffung einer höheren, über
dem Willen des Einzelſtaates ſtehenden Willensmacht. Die Ge-
ſammtheit der im Art. 4 dem Reiche zugewieſenen Angelegenheiten
läßt ſich nicht mehr als eine Ausleſe einzelner Staatsaufgaben

1) Hänel a. a. O.
2) Vgl. über dieſe Befugniß des Reiches, die demſelben eine Zeit lang
beſtritten worden iſt, unten bei der Lehre von der Reichsgeſetzgebung.
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[67/0087] §. 7. Das Reich als Rechtsſubject. zugleich als eine willkührliche 1). Beſteht aber der Zweck jeder juriſtiſchen Conſtruktion darin, ein einheitliches Prinzip für die rechtliche Beurtheilung eines Inbegriffs von Thatbeſtänden und Rechtsbeziehungen zu finden, ſo erweiſt ſich jene künſtliche und willkührliche Conſtruktion als unmöglich, wenn unter den dem Reich zuſtehenden Gerechtſamen auch ſolche ſich befinden, welche nicht als die Ausübung fremder Rechte aufgefaßt werden können. Solche Rechte hat das Reich in der That und zwar ſowohl gegen die Angehörigen des Reiches als an dem Gebiet. Es wird unten näher ausgeführt werden, daß es Unterthanenpflichten gegen das Reich giebt, ſowohl zum ſtaatsbürgerlichen Gehorſam als zur ſtaats- bürgerlichen Treue, die nach Inhalt und Weſen verſchieden ſind von den Unterthanenpflichten gegen die Einzelſtaaten, und daß dem Reiche am Bundesgebiet als Einheit eine Gebietshoheit zukömmt, welche ſich ſehr beſtimmt unterſcheiden läßt von der Staatsgewalt des Einzelſtaates an ſeinem Landesgebiete. 4. Endlich fällt für die ſelbſtſtändige Willens- und Rechts- fähigkeit, alſo für die Perſönlichkeit des Reiches der Umſtand ins Gewicht, daß daſſelbe durch einen Majoritätsbeſchluß und in der Form eines Geſetzes ſeine eigene Zuſtändigkeit nach Art. 78 Abſ. 1. erweitern kann 2). Schon die im Art. 4 dem Reiche zugewieſene Competenz iſt eine ſo umfaſſende, daß es faſt keine Seite des ſtaatlichen Lebens giebt, die nicht von ihr direct oder indirect betroffen wird. Für die Annahme eines bloß vertragsmäßigen Verhältnißes der Deut- ſchen Staaten zur gemeinſamen Ausübung gewiſſer Hoheitsrechte iſt ſchon dieſe Kompetenz von zu unbeſtimmter Begrenzung, von zu ungemeſſener Dehnbarkeit. Daß hier der Einzelſtaat auf ſeine individuelle Einwilligung verzichtet und die Entſchließung der Majorität von Bundesrath und Reichstag als die ihn bindende Norm anerkennt, iſt bereits die Schaffung einer höheren, über dem Willen des Einzelſtaates ſtehenden Willensmacht. Die Ge- ſammtheit der im Art. 4 dem Reiche zugewieſenen Angelegenheiten läßt ſich nicht mehr als eine Ausleſe einzelner Staatsaufgaben 1) Hänel a. a. O. 2) Vgl. über dieſe Befugniß des Reiches, die demſelben eine Zeit lang beſtritten worden iſt, unten bei der Lehre von der Reichsgeſetzgebung. 5*

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/87>, abgerufen am 21.11.2024.