Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.§. 8. Der Begriff des Bundesstaates. der Verfassung des Deutschen Reiches seine Verwirklichung gefun-den hat; von diesem Prinzip aus ist das staatsrechtliche Ver- hältniß des Reiches zu den Einzelstaaten einheitlich nach logischen Regeln zu erklären und zu entwickeln. Der hier gegebene Begriff des Bundesstaates ist sehr abwei- 1) Nach der von Waitz aufgestellten Begriffsbestimmung, die 1) Ueber die Dogmengeschichte des Bundesstaatsbegriffes vgl. Brie der Bundesstaat I. Abtheilung. Leipzig 1874. 2) v. Mohl Encycl. (2. Aufl.) S. 367 sagt zwar: "Es besteht für die
Gliedstaaten keine beschränkte, sondern eine getheilte Souveräne- tät," aber er sagt nicht, wie man sich eine Theilung der Souveränetät ohne Beschränkung denken könne. Waitz S. 166 sagt: "Nur der Umfang nicht der Inhalt der Souveränetät ist beschränkt;" aber er sagt nicht, wodurch sich eine Beschränkung des Umfangs von einer Beschränkung des Inhalts un- terscheide; eine Souveränetät von beschränktem Umfang hat doch auch einen beschränkten Inhalt. §. 8. Der Begriff des Bundesſtaates. der Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſeine Verwirklichung gefun-den hat; von dieſem Prinzip aus iſt das ſtaatsrechtliche Ver- hältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten einheitlich nach logiſchen Regeln zu erklären und zu entwickeln. Der hier gegebene Begriff des Bundesſtaates iſt ſehr abwei- 1) Nach der von Waitz aufgeſtellten Begriffsbeſtimmung, die 1) Ueber die Dogmengeſchichte des Bundesſtaatsbegriffes vgl. Brie der Bundesſtaat I. Abtheilung. Leipzig 1874. 2) v. Mohl Encycl. (2. Aufl.) S. 367 ſagt zwar: „Es beſteht für die
Gliedſtaaten keine beſchränkte, ſondern eine getheilte Souveräne- tät,“ aber er ſagt nicht, wie man ſich eine Theilung der Souveränetät ohne Beſchränkung denken könne. Waitz S. 166 ſagt: „Nur der Umfang nicht der Inhalt der Souveränetät iſt beſchränkt;“ aber er ſagt nicht, wodurch ſich eine Beſchränkung des Umfangs von einer Beſchränkung des Inhalts un- terſcheide; eine Souveränetät von beſchränktem Umfang hat doch auch einen beſchränkten Inhalt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0093" n="73"/><fw place="top" type="header">§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.</fw><lb/> der Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſeine Verwirklichung gefun-<lb/> den hat; von dieſem Prinzip aus iſt das ſtaatsrechtliche Ver-<lb/> hältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten einheitlich nach logiſchen<lb/> Regeln zu erklären und zu entwickeln.</p><lb/> <p>Der hier gegebene Begriff des Bundesſtaates iſt ſehr abwei-<lb/> chend von der in der Theorie herrſchenden Definition. Die Ge-<lb/> genſätze beſtehen in folgenden Punkten:</p><lb/> <p>1) Nach der von <hi rendition="#g">Waitz</hi> aufgeſtellten Begriffsbeſtimmung, die<lb/> bis in die neueſte Zeit die faſt ausſchließliche und unbeſtrittene<lb/> Herrſchaft behauptete <note place="foot" n="1)">Ueber die Dogmengeſchichte des Bundesſtaatsbegriffes vgl. <hi rendition="#g">Brie</hi> der<lb/> Bundesſtaat <hi rendition="#aq">I.</hi> Abtheilung. Leipzig 1874.</note>, beſteht das <hi rendition="#g">Weſen</hi> des Bundesſtaates<lb/> in der <hi rendition="#g">Theilung</hi> der Souveränetät. Auf gewiſſen Gebieten<lb/> des ſtaatlichen Lebens ſei der Geſammtſtaat, auf gewiſſen anderen<lb/> Gebieten der Einzelſtaat ſouverän; Geſammtſtaat ſowohl wie<lb/> Einzelſtaat ſeien wirkliche Staaten und es ſei für jeden Staat das<lb/> erſte Erforderniß, daß er ſelbſtändig ſei, unabhängig von jeder<lb/> ihm ſelbſt fremden Gewalt. „Nur da iſt ein Bundesſtaat vor-<lb/> handen, wo die Souveränetät nicht dem einen und nicht dem<lb/> andern ſondern beiden, dem Geſammtſtaat (der Centralgewalt)<lb/> und dem Einzelſtaat (der Einzelſtaatsgewalt) jedem innerhalb ſeiner<lb/> Sphäre zuſteht.“ (<hi rendition="#g">Waitz</hi> Polit. S. 166.) Verſteht man unter der<lb/> Souveränetät im ſtaatsrechtlichen Sinne aber — wie dies allge-<lb/> mein geſchieht — die oberſte, höchſte, nur ſich ſelbſt beſtimmende<lb/> Macht, ſo ſchließt dieſer Begriff das Merkmal der Unbeſchränktheit<lb/> logiſch ein und folglich auch das Merkmal der Untheilbarkeit, denn<lb/> eine getheilte Souveränetät wäre eine beſchränkte Souveränetät,<lb/> eine halbe Souveränetät <note place="foot" n="2)">v. <hi rendition="#g">Mohl</hi> Encycl. (2. Aufl.) S. 367 ſagt zwar: „Es beſteht für die<lb/> Gliedſtaaten <hi rendition="#g">keine beſchränkte, ſondern eine getheilte</hi> Souveräne-<lb/> tät,“ aber er ſagt nicht, wie man ſich eine Theilung der Souveränetät ohne<lb/> Beſchränkung denken könne. <hi rendition="#g">Waitz</hi> S. 166 ſagt: „Nur der <hi rendition="#g">Umfang</hi> nicht<lb/> der <hi rendition="#g">Inhalt</hi> der Souveränetät iſt beſchränkt;“ aber er ſagt nicht, wodurch<lb/> ſich eine Beſchränkung des Umfangs von einer Beſchränkung des Inhalts un-<lb/> terſcheide; eine Souveränetät von beſchränktem Umfang hat doch auch einen<lb/> beſchränkten Inhalt.</note>, die nicht, wie <hi rendition="#g">Heffter</hi> Völkerr. S. 19<lb/> ſagt „beinahe ein Widerſpruch,“ ſondern eine vollkommene <hi rendition="#aq">con-<lb/> tradictio in adjecto</hi> iſt. Bei allen Mängeln, welche den Ausfüh-<lb/> rungen <hi rendition="#g">Seydel’s</hi> anhaften, iſt es als ein Verdienſt ſeiner Ab-<lb/> handlung in der Zeitſchrift für die geſammten Staatswiſſenſchaften<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [73/0093]
§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
der Verfaſſung des Deutſchen Reiches ſeine Verwirklichung gefun-
den hat; von dieſem Prinzip aus iſt das ſtaatsrechtliche Ver-
hältniß des Reiches zu den Einzelſtaaten einheitlich nach logiſchen
Regeln zu erklären und zu entwickeln.
Der hier gegebene Begriff des Bundesſtaates iſt ſehr abwei-
chend von der in der Theorie herrſchenden Definition. Die Ge-
genſätze beſtehen in folgenden Punkten:
1) Nach der von Waitz aufgeſtellten Begriffsbeſtimmung, die
bis in die neueſte Zeit die faſt ausſchließliche und unbeſtrittene
Herrſchaft behauptete 1), beſteht das Weſen des Bundesſtaates
in der Theilung der Souveränetät. Auf gewiſſen Gebieten
des ſtaatlichen Lebens ſei der Geſammtſtaat, auf gewiſſen anderen
Gebieten der Einzelſtaat ſouverän; Geſammtſtaat ſowohl wie
Einzelſtaat ſeien wirkliche Staaten und es ſei für jeden Staat das
erſte Erforderniß, daß er ſelbſtändig ſei, unabhängig von jeder
ihm ſelbſt fremden Gewalt. „Nur da iſt ein Bundesſtaat vor-
handen, wo die Souveränetät nicht dem einen und nicht dem
andern ſondern beiden, dem Geſammtſtaat (der Centralgewalt)
und dem Einzelſtaat (der Einzelſtaatsgewalt) jedem innerhalb ſeiner
Sphäre zuſteht.“ (Waitz Polit. S. 166.) Verſteht man unter der
Souveränetät im ſtaatsrechtlichen Sinne aber — wie dies allge-
mein geſchieht — die oberſte, höchſte, nur ſich ſelbſt beſtimmende
Macht, ſo ſchließt dieſer Begriff das Merkmal der Unbeſchränktheit
logiſch ein und folglich auch das Merkmal der Untheilbarkeit, denn
eine getheilte Souveränetät wäre eine beſchränkte Souveränetät,
eine halbe Souveränetät 2), die nicht, wie Heffter Völkerr. S. 19
ſagt „beinahe ein Widerſpruch,“ ſondern eine vollkommene con-
tradictio in adjecto iſt. Bei allen Mängeln, welche den Ausfüh-
rungen Seydel’s anhaften, iſt es als ein Verdienſt ſeiner Ab-
handlung in der Zeitſchrift für die geſammten Staatswiſſenſchaften
1) Ueber die Dogmengeſchichte des Bundesſtaatsbegriffes vgl. Brie der
Bundesſtaat I. Abtheilung. Leipzig 1874.
2) v. Mohl Encycl. (2. Aufl.) S. 367 ſagt zwar: „Es beſteht für die
Gliedſtaaten keine beſchränkte, ſondern eine getheilte Souveräne-
tät,“ aber er ſagt nicht, wie man ſich eine Theilung der Souveränetät ohne
Beſchränkung denken könne. Waitz S. 166 ſagt: „Nur der Umfang nicht
der Inhalt der Souveränetät iſt beſchränkt;“ aber er ſagt nicht, wodurch
ſich eine Beſchränkung des Umfangs von einer Beſchränkung des Inhalts un-
terſcheide; eine Souveränetät von beſchränktem Umfang hat doch auch einen
beſchränkten Inhalt.
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