wörter Zeitwörter sind. Jm Deutschen scheint es sich, wenigstens dermalen, anders zu verhalten, weil der Ur- sprung dieser Sprache in alten und längst abgelebten Sprachen fast ganz vergraben liegt. Wenn wir sie aber nehmen, so gut sie dermalen bekannt ist, so hat sie allerdings vielerley Mittel, Zeitwörter zu bilden, weil sie dieselben von jeden andern Redetheilen herleiten, und auch hinwiederum diese aus Zeitwörtern bilden kann. Diese Ableitung hat ihre Grundsätze, die in der oben (§. 129.) erwähnten Theorie der deutschen Spra- che müssen entwickelt und brauchbar gemacht werden. Man hat sich bisher mehrentheils nur mit der Analo- gie begnügt, und neue Wörter gebilliget, oder hingehen lassen, wenn man ähnlich abgeleitete gefunden.
§. 165. Alle bisher angeführte Mittel, die Zeitwör- ter durch bloße Abänderung einiger Buchstaben und Sylben nach jeden Umständen bedeutend zu machen, sind an sich betrachtet, willkührlich. Die wirklichen Sprachen geben uns Beyspiele, daß die Abweichung da- von eben nicht nothwendig eine Zweydeutigkeit nach sich ziehe, wenn man, wie es die Hauptregel der Auslege- kunst erfordert, den Zusammenhang der Rede mit zu Hülfe nimmt. So z. E. hat legere im Lateinischen vier Bedeutungen, legeris ebenfalls. Man muß dem- nach aus dem Zusammenhang bestimmen, welche Be- deutung genommen werden solle. Jm Hebräischen wird die Zeit und die Zahl, im Deutschen die Zahl und Per- son verwechselt, und die Gewohnheit hat das Anstößige dabey gehoben. Nur vor wenigen Jahren ward noch darüber gestritten, ob man im Französischen Gott in der mehrern Zahl anreden, und sie in der Uebersetzung der Schrift gebrauchen dürfe oder solle? Nach diesen Beyspielen läßt sich als möglich gedenken, daß man alle Zeitwörter schlechthin im Jnfinitivo gebrauchen könnte, und so würde man in denen Fällen, wo Zweydeutigkei-
ten
Von den Zeitwoͤrtern.
woͤrter Zeitwoͤrter ſind. Jm Deutſchen ſcheint es ſich, wenigſtens dermalen, anders zu verhalten, weil der Ur- ſprung dieſer Sprache in alten und laͤngſt abgelebten Sprachen faſt ganz vergraben liegt. Wenn wir ſie aber nehmen, ſo gut ſie dermalen bekannt iſt, ſo hat ſie allerdings vielerley Mittel, Zeitwoͤrter zu bilden, weil ſie dieſelben von jeden andern Redetheilen herleiten, und auch hinwiederum dieſe aus Zeitwoͤrtern bilden kann. Dieſe Ableitung hat ihre Grundſaͤtze, die in der oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen Spra- che muͤſſen entwickelt und brauchbar gemacht werden. Man hat ſich bisher mehrentheils nur mit der Analo- gie begnuͤgt, und neue Woͤrter gebilliget, oder hingehen laſſen, wenn man aͤhnlich abgeleitete gefunden.
§. 165. Alle bisher angefuͤhrte Mittel, die Zeitwoͤr- ter durch bloße Abaͤnderung einiger Buchſtaben und Sylben nach jeden Umſtaͤnden bedeutend zu machen, ſind an ſich betrachtet, willkuͤhrlich. Die wirklichen Sprachen geben uns Beyſpiele, daß die Abweichung da- von eben nicht nothwendig eine Zweydeutigkeit nach ſich ziehe, wenn man, wie es die Hauptregel der Auslege- kunſt erfordert, den Zuſammenhang der Rede mit zu Huͤlfe nimmt. So z. E. hat legere im Lateiniſchen vier Bedeutungen, legeris ebenfalls. Man muß dem- nach aus dem Zuſammenhang beſtimmen, welche Be- deutung genommen werden ſolle. Jm Hebraͤiſchen wird die Zeit und die Zahl, im Deutſchen die Zahl und Per- ſon verwechſelt, und die Gewohnheit hat das Anſtoͤßige dabey gehoben. Nur vor wenigen Jahren ward noch daruͤber geſtritten, ob man im Franzoͤſiſchen Gott in der mehrern Zahl anreden, und ſie in der Ueberſetzung der Schrift gebrauchen duͤrfe oder ſolle? Nach dieſen Beyſpielen laͤßt ſich als moͤglich gedenken, daß man alle Zeitwoͤrter ſchlechthin im Jnfinitivo gebrauchen koͤnnte, und ſo wuͤrde man in denen Faͤllen, wo Zweydeutigkei-
ten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0101"n="95"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von den Zeitwoͤrtern.</hi></fw><lb/>
woͤrter Zeitwoͤrter ſind. Jm Deutſchen ſcheint es ſich,<lb/>
wenigſtens dermalen, anders zu verhalten, weil der Ur-<lb/>ſprung dieſer Sprache in alten und laͤngſt abgelebten<lb/>
Sprachen faſt ganz vergraben liegt. Wenn wir ſie<lb/>
aber nehmen, ſo gut ſie dermalen bekannt iſt, ſo hat ſie<lb/>
allerdings vielerley Mittel, Zeitwoͤrter zu bilden, weil<lb/>ſie dieſelben von jeden andern Redetheilen herleiten,<lb/>
und auch hinwiederum dieſe aus Zeitwoͤrtern bilden<lb/>
kann. Dieſe Ableitung hat ihre Grundſaͤtze, die in der<lb/>
oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen Spra-<lb/>
che muͤſſen entwickelt und brauchbar gemacht werden.<lb/>
Man hat ſich bisher mehrentheils nur mit der Analo-<lb/>
gie begnuͤgt, und neue Woͤrter gebilliget, oder hingehen<lb/>
laſſen, wenn man aͤhnlich abgeleitete gefunden.</p><lb/><p>§. 165. Alle bisher angefuͤhrte Mittel, die Zeitwoͤr-<lb/>
ter durch bloße Abaͤnderung einiger Buchſtaben und<lb/>
Sylben nach jeden Umſtaͤnden bedeutend zu machen,<lb/>ſind an ſich betrachtet, willkuͤhrlich. Die wirklichen<lb/>
Sprachen geben uns Beyſpiele, daß die Abweichung da-<lb/>
von eben nicht nothwendig eine Zweydeutigkeit nach ſich<lb/>
ziehe, wenn man, wie es die Hauptregel der Auslege-<lb/>
kunſt erfordert, den Zuſammenhang der Rede mit zu<lb/>
Huͤlfe nimmt. So z. E. hat <hirendition="#aq">legere</hi> im Lateiniſchen<lb/>
vier Bedeutungen, <hirendition="#aq">legeris</hi> ebenfalls. Man muß dem-<lb/>
nach aus dem Zuſammenhang beſtimmen, welche Be-<lb/>
deutung genommen werden ſolle. Jm Hebraͤiſchen wird<lb/>
die Zeit und die Zahl, im Deutſchen die Zahl und Per-<lb/>ſon verwechſelt, und die Gewohnheit hat das Anſtoͤßige<lb/>
dabey gehoben. Nur vor wenigen Jahren ward noch<lb/>
daruͤber geſtritten, ob man im Franzoͤſiſchen <hirendition="#fr">Gott</hi> in<lb/>
der mehrern Zahl anreden, und ſie in der Ueberſetzung<lb/>
der Schrift gebrauchen duͤrfe oder ſolle? Nach dieſen<lb/>
Beyſpielen laͤßt ſich als moͤglich gedenken, daß man alle<lb/>
Zeitwoͤrter ſchlechthin im Jnfinitivo gebrauchen koͤnnte,<lb/>
und ſo wuͤrde man in denen Faͤllen, wo Zweydeutigkei-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ten</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[95/0101]
Von den Zeitwoͤrtern.
woͤrter Zeitwoͤrter ſind. Jm Deutſchen ſcheint es ſich,
wenigſtens dermalen, anders zu verhalten, weil der Ur-
ſprung dieſer Sprache in alten und laͤngſt abgelebten
Sprachen faſt ganz vergraben liegt. Wenn wir ſie
aber nehmen, ſo gut ſie dermalen bekannt iſt, ſo hat ſie
allerdings vielerley Mittel, Zeitwoͤrter zu bilden, weil
ſie dieſelben von jeden andern Redetheilen herleiten,
und auch hinwiederum dieſe aus Zeitwoͤrtern bilden
kann. Dieſe Ableitung hat ihre Grundſaͤtze, die in der
oben (§. 129.) erwaͤhnten Theorie der deutſchen Spra-
che muͤſſen entwickelt und brauchbar gemacht werden.
Man hat ſich bisher mehrentheils nur mit der Analo-
gie begnuͤgt, und neue Woͤrter gebilliget, oder hingehen
laſſen, wenn man aͤhnlich abgeleitete gefunden.
§. 165. Alle bisher angefuͤhrte Mittel, die Zeitwoͤr-
ter durch bloße Abaͤnderung einiger Buchſtaben und
Sylben nach jeden Umſtaͤnden bedeutend zu machen,
ſind an ſich betrachtet, willkuͤhrlich. Die wirklichen
Sprachen geben uns Beyſpiele, daß die Abweichung da-
von eben nicht nothwendig eine Zweydeutigkeit nach ſich
ziehe, wenn man, wie es die Hauptregel der Auslege-
kunſt erfordert, den Zuſammenhang der Rede mit zu
Huͤlfe nimmt. So z. E. hat legere im Lateiniſchen
vier Bedeutungen, legeris ebenfalls. Man muß dem-
nach aus dem Zuſammenhang beſtimmen, welche Be-
deutung genommen werden ſolle. Jm Hebraͤiſchen wird
die Zeit und die Zahl, im Deutſchen die Zahl und Per-
ſon verwechſelt, und die Gewohnheit hat das Anſtoͤßige
dabey gehoben. Nur vor wenigen Jahren ward noch
daruͤber geſtritten, ob man im Franzoͤſiſchen Gott in
der mehrern Zahl anreden, und ſie in der Ueberſetzung
der Schrift gebrauchen duͤrfe oder ſolle? Nach dieſen
Beyſpielen laͤßt ſich als moͤglich gedenken, daß man alle
Zeitwoͤrter ſchlechthin im Jnfinitivo gebrauchen koͤnnte,
und ſo wuͤrde man in denen Faͤllen, wo Zweydeutigkei-
ten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/101>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.