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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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I. Hauptstück. Von der symbolischen
zu Zeichen der Gedanken, deren Empfindung wir nicht
jedesmal erneuern können. Die Gebärden werden
besonders bey Rednern als eine Belebung der Spra-
che erfordert, und sind bey den Affecten sehr natürlich.
Taube und Stumme sind dazu eingeschränkt, daß sie
sich nicht wohl anders, als durch Deutungen mit den
Händen und Gebärden, können zu verstehen geben. Die
Schriften der Chineser sind Figuren, wodurch sie ih-
re Begriffe vorstellen. Die Hieroglyphen der Ae-
gyptier waren ebenfalls solche. Jn der Astronomie,
Chymie, Algeber, Musik, Choreographie etc. kommen
solche ebenfalls vor. Unsere Buchstaben sind Zei-
chen artikulirter Töne, und daher die geschriebe-
nen Wörter
nur mittelbare Zeichen der Begriffe.
Alle diese Zeichen sind vornehmlich für das Auge, und
daher sind sie des Nachts oder im Dunkeln von weni-
gem oder gar keinem Gebrauche. Jn dieser Absicht
hat demnach der Schall und die Rede einen Vor-
zug, der sie immer und nothwendig zum Zeichen unse-
rer Begriffe machen wird. Denn nicht nur ist das
Reden leicht, hurtig und vernehmlich, sondern es ist
auch nicht an die Abwechselung der Tages- und Jahres-
zeiten gebunden.

§. 10. So lange die Sache, welche ein Zeichen vorstel-
let, nicht gegenwärtig ist, noch von uns empfunden wird,
haben wir nur den Begriff des Zeichens klar, weil
wir in der That keine andere unmittelbare Zeichen wäh-
len können, als solche, die in Empfindungen bestehen.
Denn wähleten wir Zeichen, die wir nicht immer wie-
der empfinden könnten, so würde der Begriff desselben
in seiner Abwesenheit uns eben so dunkel bleiben, als
der Begriff der ebenfalls abwesenden Sache, die das
Zeichen vorstellet, und wir müßten ein neues Zeichen
annehmen, welches wir empfinden könnten.

§. 11.

I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen
zu Zeichen der Gedanken, deren Empfindung wir nicht
jedesmal erneuern koͤnnen. Die Gebaͤrden werden
beſonders bey Rednern als eine Belebung der Spra-
che erfordert, und ſind bey den Affecten ſehr natuͤrlich.
Taube und Stumme ſind dazu eingeſchraͤnkt, daß ſie
ſich nicht wohl anders, als durch Deutungen mit den
Haͤnden und Gebaͤrden, koͤnnen zu verſtehen geben. Die
Schriften der Chineſer ſind Figuren, wodurch ſie ih-
re Begriffe vorſtellen. Die Hieroglyphen der Ae-
gyptier waren ebenfalls ſolche. Jn der Aſtronomie,
Chymie, Algeber, Muſik, Choreographie ꝛc. kommen
ſolche ebenfalls vor. Unſere Buchſtaben ſind Zei-
chen artikulirter Toͤne, und daher die geſchriebe-
nen Woͤrter
nur mittelbare Zeichen der Begriffe.
Alle dieſe Zeichen ſind vornehmlich fuͤr das Auge, und
daher ſind ſie des Nachts oder im Dunkeln von weni-
gem oder gar keinem Gebrauche. Jn dieſer Abſicht
hat demnach der Schall und die Rede einen Vor-
zug, der ſie immer und nothwendig zum Zeichen unſe-
rer Begriffe machen wird. Denn nicht nur iſt das
Reden leicht, hurtig und vernehmlich, ſondern es iſt
auch nicht an die Abwechſelung der Tages- und Jahres-
zeiten gebunden.

§. 10. So lange die Sache, welche ein Zeichen vorſtel-
let, nicht gegenwaͤrtig iſt, noch von uns empfunden wird,
haben wir nur den Begriff des Zeichens klar, weil
wir in der That keine andere unmittelbare Zeichen waͤh-
len koͤnnen, als ſolche, die in Empfindungen beſtehen.
Denn waͤhleten wir Zeichen, die wir nicht immer wie-
der empfinden koͤnnten, ſo wuͤrde der Begriff deſſelben
in ſeiner Abweſenheit uns eben ſo dunkel bleiben, als
der Begriff der ebenfalls abweſenden Sache, die das
Zeichen vorſtellet, und wir muͤßten ein neues Zeichen
annehmen, welches wir empfinden koͤnnten.

§. 11.
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[10/0016] I. Hauptſtuͤck. Von der ſymboliſchen zu Zeichen der Gedanken, deren Empfindung wir nicht jedesmal erneuern koͤnnen. Die Gebaͤrden werden beſonders bey Rednern als eine Belebung der Spra- che erfordert, und ſind bey den Affecten ſehr natuͤrlich. Taube und Stumme ſind dazu eingeſchraͤnkt, daß ſie ſich nicht wohl anders, als durch Deutungen mit den Haͤnden und Gebaͤrden, koͤnnen zu verſtehen geben. Die Schriften der Chineſer ſind Figuren, wodurch ſie ih- re Begriffe vorſtellen. Die Hieroglyphen der Ae- gyptier waren ebenfalls ſolche. Jn der Aſtronomie, Chymie, Algeber, Muſik, Choreographie ꝛc. kommen ſolche ebenfalls vor. Unſere Buchſtaben ſind Zei- chen artikulirter Toͤne, und daher die geſchriebe- nen Woͤrter nur mittelbare Zeichen der Begriffe. Alle dieſe Zeichen ſind vornehmlich fuͤr das Auge, und daher ſind ſie des Nachts oder im Dunkeln von weni- gem oder gar keinem Gebrauche. Jn dieſer Abſicht hat demnach der Schall und die Rede einen Vor- zug, der ſie immer und nothwendig zum Zeichen unſe- rer Begriffe machen wird. Denn nicht nur iſt das Reden leicht, hurtig und vernehmlich, ſondern es iſt auch nicht an die Abwechſelung der Tages- und Jahres- zeiten gebunden. §. 10. So lange die Sache, welche ein Zeichen vorſtel- let, nicht gegenwaͤrtig iſt, noch von uns empfunden wird, haben wir nur den Begriff des Zeichens klar, weil wir in der That keine andere unmittelbare Zeichen waͤh- len koͤnnen, als ſolche, die in Empfindungen beſtehen. Denn waͤhleten wir Zeichen, die wir nicht immer wie- der empfinden koͤnnten, ſo wuͤrde der Begriff deſſelben in ſeiner Abweſenheit uns eben ſo dunkel bleiben, als der Begriff der ebenfalls abweſenden Sache, die das Zeichen vorſtellet, und wir muͤßten ein neues Zeichen annehmen, welches wir empfinden koͤnnten. §. 11.

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/16>, abgerufen am 27.04.2024.