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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von der Wortfügung.
und unschickliche Nachahmungen tragen dazu bey, sie in
Aufnahme zu bringen. Große Redner und Dichter,
die zu classischen Schriftstellern werden, geben hierinn,
wie bald in allen zur Ausbesserung der Sprache dienen-
den Stücken, und fast ohne es voraus zu sehen, die er-
sten Proben. Sie wagen sie mit wahrscheinlicherm Be-
wußtseyn, die Probe werde Beyfall finden, und aufge-
nommen werden. Es ist nicht zu zweifeln, daß die
deutsche Sprache auch in Ansehung der Wortordnung
noch ungleich biegsamer könne gemacht werden. Es
kömmt auf Dichter an, die reich genug an Einfällen
sind, durch neue Wendungen der Gedanken das Nach-
drückliche und Erhabene darinn recht auszubilden, und
die dazu dienende Ordnung und Auswahl der Worte zu
treffen. Man kann hiezu noch mitrechnen, was wir zu
Ende des §. 100. angemerkt haben.

§. 302. Wir haben noch den vollends metaphysi-
schen Theil der Syntaxe oder Construction ganzer Re-
densarten und Perioden zu betrachten. Die Grundre-
gel dabey ist, daß die Redensart, so wie sie con-
struirt wird, einen Verstand haben solle.
Diese
Regel muß man sich allerdings im Reden und Schrei-
ben vorsetzen, und bey dem Lesen und Auslegen fremder
Reden und Schriften wird sie ebenfalls und in so ferne
gebraucht, daß man auch in zweifelhaftern und vieldeu-
tigen Fällen dem Urheber, so oft nicht das Gegentheil
kann bewiesen werden, denjenigen Sinn der Rede gel-
ten läßt, der in Absicht auf das Wahre und Gute für
ihn der vortheilhafteste ist, und diese Billigkeit auch da
noch hat, wo er aus Mangel schicklicher Ausdrücke, oder
bloß weil sie ihm nicht beyfielen, das was er wirklich
hatte sagen wollen, mehr aus den Umständen und dem
Zusammenhang, als aus den Worten zu schließen giebt.
Wir haben diesen letztern Fall bereits in dem §. 145.

der
M 2

Von der Wortfuͤgung.
und unſchickliche Nachahmungen tragen dazu bey, ſie in
Aufnahme zu bringen. Große Redner und Dichter,
die zu claſſiſchen Schriftſtellern werden, geben hierinn,
wie bald in allen zur Ausbeſſerung der Sprache dienen-
den Stuͤcken, und faſt ohne es voraus zu ſehen, die er-
ſten Proben. Sie wagen ſie mit wahrſcheinlicherm Be-
wußtſeyn, die Probe werde Beyfall finden, und aufge-
nommen werden. Es iſt nicht zu zweifeln, daß die
deutſche Sprache auch in Anſehung der Wortordnung
noch ungleich biegſamer koͤnne gemacht werden. Es
koͤmmt auf Dichter an, die reich genug an Einfaͤllen
ſind, durch neue Wendungen der Gedanken das Nach-
druͤckliche und Erhabene darinn recht auszubilden, und
die dazu dienende Ordnung und Auswahl der Worte zu
treffen. Man kann hiezu noch mitrechnen, was wir zu
Ende des §. 100. angemerkt haben.

§. 302. Wir haben noch den vollends metaphyſi-
ſchen Theil der Syntaxe oder Conſtruction ganzer Re-
densarten und Perioden zu betrachten. Die Grundre-
gel dabey iſt, daß die Redensart, ſo wie ſie con-
ſtruirt wird, einen Verſtand haben ſolle.
Dieſe
Regel muß man ſich allerdings im Reden und Schrei-
ben vorſetzen, und bey dem Leſen und Auslegen fremder
Reden und Schriften wird ſie ebenfalls und in ſo ferne
gebraucht, daß man auch in zweifelhaftern und vieldeu-
tigen Faͤllen dem Urheber, ſo oft nicht das Gegentheil
kann bewieſen werden, denjenigen Sinn der Rede gel-
ten laͤßt, der in Abſicht auf das Wahre und Gute fuͤr
ihn der vortheilhafteſte iſt, und dieſe Billigkeit auch da
noch hat, wo er aus Mangel ſchicklicher Ausdruͤcke, oder
bloß weil ſie ihm nicht beyfielen, das was er wirklich
hatte ſagen wollen, mehr aus den Umſtaͤnden und dem
Zuſammenhang, als aus den Worten zu ſchließen giebt.
Wir haben dieſen letztern Fall bereits in dem §. 145.

der
M 2
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[179/0185] Von der Wortfuͤgung. und unſchickliche Nachahmungen tragen dazu bey, ſie in Aufnahme zu bringen. Große Redner und Dichter, die zu claſſiſchen Schriftſtellern werden, geben hierinn, wie bald in allen zur Ausbeſſerung der Sprache dienen- den Stuͤcken, und faſt ohne es voraus zu ſehen, die er- ſten Proben. Sie wagen ſie mit wahrſcheinlicherm Be- wußtſeyn, die Probe werde Beyfall finden, und aufge- nommen werden. Es iſt nicht zu zweifeln, daß die deutſche Sprache auch in Anſehung der Wortordnung noch ungleich biegſamer koͤnne gemacht werden. Es koͤmmt auf Dichter an, die reich genug an Einfaͤllen ſind, durch neue Wendungen der Gedanken das Nach- druͤckliche und Erhabene darinn recht auszubilden, und die dazu dienende Ordnung und Auswahl der Worte zu treffen. Man kann hiezu noch mitrechnen, was wir zu Ende des §. 100. angemerkt haben. §. 302. Wir haben noch den vollends metaphyſi- ſchen Theil der Syntaxe oder Conſtruction ganzer Re- densarten und Perioden zu betrachten. Die Grundre- gel dabey iſt, daß die Redensart, ſo wie ſie con- ſtruirt wird, einen Verſtand haben ſolle. Dieſe Regel muß man ſich allerdings im Reden und Schrei- ben vorſetzen, und bey dem Leſen und Auslegen fremder Reden und Schriften wird ſie ebenfalls und in ſo ferne gebraucht, daß man auch in zweifelhaftern und vieldeu- tigen Faͤllen dem Urheber, ſo oft nicht das Gegentheil kann bewieſen werden, denjenigen Sinn der Rede gel- ten laͤßt, der in Abſicht auf das Wahre und Gute fuͤr ihn der vortheilhafteſte iſt, und dieſe Billigkeit auch da noch hat, wo er aus Mangel ſchicklicher Ausdruͤcke, oder bloß weil ſie ihm nicht beyfielen, das was er wirklich hatte ſagen wollen, mehr aus den Umſtaͤnden und dem Zuſammenhang, als aus den Worten zu ſchließen giebt. Wir haben dieſen letztern Fall bereits in dem §. 145. der M 2

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/185>, abgerufen am 14.05.2024.