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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem Hypothetischen der Sprache.
Sache aber eins ist, fließen aus dieser Quelle, und zei-
gen die Schwierigkeit, davon wir hier reden, als in
eben so vielen Beyspielen.

§. 333. Diese zwo Schwierigkeiten machen, daß
wenn man auch die Sprache nehmen wollte, wie sie ist,
man es niemal ganz thun kann, theils weil es zu viel
Mühe gebrauchte, sie sich ganz bekannt zu machen, theils
weil man in streitigen Fällen nicht so leicht die Mehr-
heit der Stimmen (§. 1.) einholen kann, und allerdings
noch sehr viel Willkührliches darinn zurücke bleibt.

§. 334. Ungeacht aber das Hypothetische einer Spra-
che nicht wohl von jemand durchaus erlernt werden
kann, so läßt sich dennoch der Anfang und Fortgang
darinn so ferne aufklären, daß sich verschiedene brauch-
bare Regeln daraus herleiten lassen, wodurch man in
Stand gesetzt wird, das anfänglich ganz verwirrt schei-
nende Cahos immer mehr aus einander zu lesen. Die
Sprache in ihrem vollständigen Gebrauche dient nicht
so fast, einzelne Begriffe, sondern vielmehr den Zusam-
menhang, die Vergleichung und Verbindung derselben
andern mitzutheilen und vorstellig zu machen. Solle
dieses angehen, so ist unstreitig, daß man sowohl in der
Bedeutung jeder einzelnen Worte, als auch jeder
Wortfügung, eins seyn müsse. Und in diesen beyden
Stücken besteht das Hypothetische einer Sprache. Es
wird jedesmal vorausgesetzt, und man thut dessen keine
Erwähnung, als bis der eine von den Unterredenden
anfängt, zu vermuthen, es müsse Mißverstand in den
Worten und Ausdrücken versteckt liegen, vor dessen Auf-
klärung man nicht sehen könne, ob man in der That
nicht einerley Meynung sey. Die oben (§. 302. 307.)
erwähnte hermeneutische Billigkeit und die dafür ange-
gebenen Gründe rathen dieses Verfahren um desto mehr
an, weil es Streitigkeiten vermeidet und abkürzt, und
weil es ohnehin ehender zu entschuldigen ist, wenn man

nur

Von dem Hypothetiſchen der Sprache.
Sache aber eins iſt, fließen aus dieſer Quelle, und zei-
gen die Schwierigkeit, davon wir hier reden, als in
eben ſo vielen Beyſpielen.

§. 333. Dieſe zwo Schwierigkeiten machen, daß
wenn man auch die Sprache nehmen wollte, wie ſie iſt,
man es niemal ganz thun kann, theils weil es zu viel
Muͤhe gebrauchte, ſie ſich ganz bekannt zu machen, theils
weil man in ſtreitigen Faͤllen nicht ſo leicht die Mehr-
heit der Stimmen (§. 1.) einholen kann, und allerdings
noch ſehr viel Willkuͤhrliches darinn zuruͤcke bleibt.

§. 334. Ungeacht aber das Hypothetiſche einer Spra-
che nicht wohl von jemand durchaus erlernt werden
kann, ſo laͤßt ſich dennoch der Anfang und Fortgang
darinn ſo ferne aufklaͤren, daß ſich verſchiedene brauch-
bare Regeln daraus herleiten laſſen, wodurch man in
Stand geſetzt wird, das anfaͤnglich ganz verwirrt ſchei-
nende Cahos immer mehr aus einander zu leſen. Die
Sprache in ihrem vollſtaͤndigen Gebrauche dient nicht
ſo faſt, einzelne Begriffe, ſondern vielmehr den Zuſam-
menhang, die Vergleichung und Verbindung derſelben
andern mitzutheilen und vorſtellig zu machen. Solle
dieſes angehen, ſo iſt unſtreitig, daß man ſowohl in der
Bedeutung jeder einzelnen Worte, als auch jeder
Wortfuͤgung, eins ſeyn muͤſſe. Und in dieſen beyden
Stuͤcken beſteht das Hypothetiſche einer Sprache. Es
wird jedesmal vorausgeſetzt, und man thut deſſen keine
Erwaͤhnung, als bis der eine von den Unterredenden
anfaͤngt, zu vermuthen, es muͤſſe Mißverſtand in den
Worten und Ausdruͤcken verſteckt liegen, vor deſſen Auf-
klaͤrung man nicht ſehen koͤnne, ob man in der That
nicht einerley Meynung ſey. Die oben (§. 302. 307.)
erwaͤhnte hermeneutiſche Billigkeit und die dafuͤr ange-
gebenen Gruͤnde rathen dieſes Verfahren um deſto mehr
an, weil es Streitigkeiten vermeidet und abkuͤrzt, und
weil es ohnehin ehender zu entſchuldigen iſt, wenn man

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[203/0209] Von dem Hypothetiſchen der Sprache. Sache aber eins iſt, fließen aus dieſer Quelle, und zei- gen die Schwierigkeit, davon wir hier reden, als in eben ſo vielen Beyſpielen. §. 333. Dieſe zwo Schwierigkeiten machen, daß wenn man auch die Sprache nehmen wollte, wie ſie iſt, man es niemal ganz thun kann, theils weil es zu viel Muͤhe gebrauchte, ſie ſich ganz bekannt zu machen, theils weil man in ſtreitigen Faͤllen nicht ſo leicht die Mehr- heit der Stimmen (§. 1.) einholen kann, und allerdings noch ſehr viel Willkuͤhrliches darinn zuruͤcke bleibt. §. 334. Ungeacht aber das Hypothetiſche einer Spra- che nicht wohl von jemand durchaus erlernt werden kann, ſo laͤßt ſich dennoch der Anfang und Fortgang darinn ſo ferne aufklaͤren, daß ſich verſchiedene brauch- bare Regeln daraus herleiten laſſen, wodurch man in Stand geſetzt wird, das anfaͤnglich ganz verwirrt ſchei- nende Cahos immer mehr aus einander zu leſen. Die Sprache in ihrem vollſtaͤndigen Gebrauche dient nicht ſo faſt, einzelne Begriffe, ſondern vielmehr den Zuſam- menhang, die Vergleichung und Verbindung derſelben andern mitzutheilen und vorſtellig zu machen. Solle dieſes angehen, ſo iſt unſtreitig, daß man ſowohl in der Bedeutung jeder einzelnen Worte, als auch jeder Wortfuͤgung, eins ſeyn muͤſſe. Und in dieſen beyden Stuͤcken beſteht das Hypothetiſche einer Sprache. Es wird jedesmal vorausgeſetzt, und man thut deſſen keine Erwaͤhnung, als bis der eine von den Unterredenden anfaͤngt, zu vermuthen, es muͤſſe Mißverſtand in den Worten und Ausdruͤcken verſteckt liegen, vor deſſen Auf- klaͤrung man nicht ſehen koͤnne, ob man in der That nicht einerley Meynung ſey. Die oben (§. 302. 307.) erwaͤhnte hermeneutiſche Billigkeit und die dafuͤr ange- gebenen Gruͤnde rathen dieſes Verfahren um deſto mehr an, weil es Streitigkeiten vermeidet und abkuͤrzt, und weil es ohnehin ehender zu entſchuldigen iſt, wenn man nur

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/209>, abgerufen am 12.05.2024.