und so hat es allerdings an Anläßen, Fleiß und Be- mühung für diesen Theil der Phänomenologie nicht ge- fehlt, so sehr auch die übrigen zurücke geblieben sind.
§. 3. Es ist unnöthig, viele Fälle hier anzuführen, wodurch der Unterschied des Scheins und der wahren Beschaffenheit der sichtbaren Dinge, in so fern sie ein Gegenstand des Sehens sind, gewiesen wird. Denn so weiß jedermann, daß einerley Dinge in größerer Ent- fernung kleiner, undeutlicher und blasser scheinen; daß sie, von andern Seiten betrachtet, anders aussehen; daß ihre Farbe sich mit Abänderung des auffallenden Lich- tes ändert; daß den Schiffenden die Ufer sich zu entfer- nen, oder zu nähern, und überhaupt zu bewegen schei- nen; daß ein Circul, schief betrachtet, ablang, und hin- wiederum eine ablange Ovale, von gewissen Seiten be- trachtet, rund scheinen könne etc. Aus solchen und un- zähligen andern täglich vorkommenden Fällen, weiß je- dermann, daß die scheinbare Gestalt und Ansehen der Dinge von ihrer wahren Gestalt müsse unterschieden werden, und daß man von jener auf diese nicht so schlecht- hin schließen könne, weil es Fälle giebt, wo ganz ver- schiedene Dinge sich unsern Augen unter einerley Ge- stalt zeigen. Alles dieses ist nun in der Optik so weit entwickelt und auf Grundsätze gebracht, daß man darinn von dem Schein der sichtbaren Dinge einen ausführli- chen Begriff geben kann. Man weiß nämlich, daß alles, was man ansieht, sich auf dem Augennetze gleich- sam abmalet; daß dieses kleine Gemälde eben so in das Auge fällt, als die Gegenstände selbst, und daß von dem Schein der Gegenstände gelte, was von diesem kleinen Gemälde auf dem Augennetze kann gesagt wer- den, es mag nun die Figur, Größe, Entfernung, Lage, Farbe, Helligkeit, Ruhe oder Bewegung betreffen. Man hat daher in der Optik den Grundsatz angenom- men, daß Dinge einerley scheinen, so fern sie auf einer-
ley
Von den Arten des Scheins.
und ſo hat es allerdings an Anlaͤßen, Fleiß und Be- muͤhung fuͤr dieſen Theil der Phaͤnomenologie nicht ge- fehlt, ſo ſehr auch die uͤbrigen zuruͤcke geblieben ſind.
§. 3. Es iſt unnoͤthig, viele Faͤlle hier anzufuͤhren, wodurch der Unterſchied des Scheins und der wahren Beſchaffenheit der ſichtbaren Dinge, in ſo fern ſie ein Gegenſtand des Sehens ſind, gewieſen wird. Denn ſo weiß jedermann, daß einerley Dinge in groͤßerer Ent- fernung kleiner, undeutlicher und blaſſer ſcheinen; daß ſie, von andern Seiten betrachtet, anders ausſehen; daß ihre Farbe ſich mit Abaͤnderung des auffallenden Lich- tes aͤndert; daß den Schiffenden die Ufer ſich zu entfer- nen, oder zu naͤhern, und uͤberhaupt zu bewegen ſchei- nen; daß ein Circul, ſchief betrachtet, ablang, und hin- wiederum eine ablange Ovale, von gewiſſen Seiten be- trachtet, rund ſcheinen koͤnne ꝛc. Aus ſolchen und un- zaͤhligen andern taͤglich vorkommenden Faͤllen, weiß je- dermann, daß die ſcheinbare Geſtalt und Anſehen der Dinge von ihrer wahren Geſtalt muͤſſe unterſchieden werden, und daß man von jener auf dieſe nicht ſo ſchlecht- hin ſchließen koͤnne, weil es Faͤlle giebt, wo ganz ver- ſchiedene Dinge ſich unſern Augen unter einerley Ge- ſtalt zeigen. Alles dieſes iſt nun in der Optik ſo weit entwickelt und auf Grundſaͤtze gebracht, daß man darinn von dem Schein der ſichtbaren Dinge einen ausfuͤhrli- chen Begriff geben kann. Man weiß naͤmlich, daß alles, was man anſieht, ſich auf dem Augennetze gleich- ſam abmalet; daß dieſes kleine Gemaͤlde eben ſo in das Auge faͤllt, als die Gegenſtaͤnde ſelbſt, und daß von dem Schein der Gegenſtaͤnde gelte, was von dieſem kleinen Gemaͤlde auf dem Augennetze kann geſagt wer- den, es mag nun die Figur, Groͤße, Entfernung, Lage, Farbe, Helligkeit, Ruhe oder Bewegung betreffen. Man hat daher in der Optik den Grundſatz angenom- men, daß Dinge einerley ſcheinen, ſo fern ſie auf einer-
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Von den Arten des Scheins.
und ſo hat es allerdings an Anlaͤßen, Fleiß und Be-
muͤhung fuͤr dieſen Theil der Phaͤnomenologie nicht ge-
fehlt, ſo ſehr auch die uͤbrigen zuruͤcke geblieben ſind.
§. 3. Es iſt unnoͤthig, viele Faͤlle hier anzufuͤhren,
wodurch der Unterſchied des Scheins und der wahren
Beſchaffenheit der ſichtbaren Dinge, in ſo fern ſie ein
Gegenſtand des Sehens ſind, gewieſen wird. Denn
ſo weiß jedermann, daß einerley Dinge in groͤßerer Ent-
fernung kleiner, undeutlicher und blaſſer ſcheinen; daß
ſie, von andern Seiten betrachtet, anders ausſehen; daß
ihre Farbe ſich mit Abaͤnderung des auffallenden Lich-
tes aͤndert; daß den Schiffenden die Ufer ſich zu entfer-
nen, oder zu naͤhern, und uͤberhaupt zu bewegen ſchei-
nen; daß ein Circul, ſchief betrachtet, ablang, und hin-
wiederum eine ablange Ovale, von gewiſſen Seiten be-
trachtet, rund ſcheinen koͤnne ꝛc. Aus ſolchen und un-
zaͤhligen andern taͤglich vorkommenden Faͤllen, weiß je-
dermann, daß die ſcheinbare Geſtalt und Anſehen der
Dinge von ihrer wahren Geſtalt muͤſſe unterſchieden
werden, und daß man von jener auf dieſe nicht ſo ſchlecht-
hin ſchließen koͤnne, weil es Faͤlle giebt, wo ganz ver-
ſchiedene Dinge ſich unſern Augen unter einerley Ge-
ſtalt zeigen. Alles dieſes iſt nun in der Optik ſo weit
entwickelt und auf Grundſaͤtze gebracht, daß man darinn
von dem Schein der ſichtbaren Dinge einen ausfuͤhrli-
chen Begriff geben kann. Man weiß naͤmlich, daß
alles, was man anſieht, ſich auf dem Augennetze gleich-
ſam abmalet; daß dieſes kleine Gemaͤlde eben ſo in das
Auge faͤllt, als die Gegenſtaͤnde ſelbſt, und daß von
dem Schein der Gegenſtaͤnde gelte, was von dieſem
kleinen Gemaͤlde auf dem Augennetze kann geſagt wer-
den, es mag nun die Figur, Groͤße, Entfernung, Lage,
Farbe, Helligkeit, Ruhe oder Bewegung betreffen.
Man hat daher in der Optik den Grundſatz angenom-
men, daß Dinge einerley ſcheinen, ſo fern ſie auf einer-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/225>, abgerufen am 26.11.2024.
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