fangs die höhern, sodann die untern Erkenntnißkräfte, und endlich gar die Sinnen betäuben und für eine Zeit- lang unbrauchbar machen können. Diese und mehrere dergleichen Erfahrungen zeigen, nicht nur, daß das Sy- stem der Gedanken von dem physischen Zustande des Gehirns abhängt, sondern auch, daß die feinern Gedan- ken sich stuffenweise nach den feinern Fibern und Bewe- gungen in dem Gehirne richten, und mit denselben lei- den, so unbekannt uns dessen Structur und Mechanis- mus und die Gemeinschaft der Seele und des Leibes seyn mag.
§. 99. So viel ist gewiß, daß wenn wir diese Structur und den Mechanismus des Gehirns durchaus wüßten, die Theorie davon uns in Absicht auf das Ge- dankenreich und den psychologischen Schein eben den Dienst thun würde, den uns die Anatomie des Auges in der Optik thut (§. 3. 4. 69.). Besonders würde sich die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Gegen- stände verschiedener Sinnen und sogar auch die Dinge der Jntellectualwelt in uns machen, und wodurch wir zu abstractern und transcendenten Begriffen gelangen, und in der Sprache Metaphern einführen, etc. daraus umständlicher entwickeln lassen. Wir haben sie in der Alethiologie und Semiotik, in Ermanglung dieser Theo- rie, schlechthin nur als eine Erfahrung angenommen, und den Gebrauch davon ebenfalls aus Beyspielen angezeigt.
§. 100. Jndessen können wir hier so viel annehmen, daß, wenn eine Empfindung durch die Bewegung der Nerven und Fibern bis in das Gehirn fortgepflanzt wird, und sich theils communicirt, theils gleichsam ge- gen den Sitz der Gedanken convergent wird, daß wir, sage ich, von jeden diesen Bewegungen Empfindungen haben, und zwar desto stärkere, je stärker sie an sich sind. Besonders aber macht die Communication der Bewe- gung, daß uns auch ähnliche vorhin gehabte Empfin-
dungen
S 4
Von dem pſychologiſchen Schein.
fangs die hoͤhern, ſodann die untern Erkenntnißkraͤfte, und endlich gar die Sinnen betaͤuben und fuͤr eine Zeit- lang unbrauchbar machen koͤnnen. Dieſe und mehrere dergleichen Erfahrungen zeigen, nicht nur, daß das Sy- ſtem der Gedanken von dem phyſiſchen Zuſtande des Gehirns abhaͤngt, ſondern auch, daß die feinern Gedan- ken ſich ſtuffenweiſe nach den feinern Fibern und Bewe- gungen in dem Gehirne richten, und mit denſelben lei- den, ſo unbekannt uns deſſen Structur und Mechanis- mus und die Gemeinſchaft der Seele und des Leibes ſeyn mag.
§. 99. So viel iſt gewiß, daß wenn wir dieſe Structur und den Mechaniſmus des Gehirns durchaus wuͤßten, die Theorie davon uns in Abſicht auf das Ge- dankenreich und den pſychologiſchen Schein eben den Dienſt thun wuͤrde, den uns die Anatomie des Auges in der Optik thut (§. 3. 4. 69.). Beſonders wuͤrde ſich die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Gegen- ſtaͤnde verſchiedener Sinnen und ſogar auch die Dinge der Jntellectualwelt in uns machen, und wodurch wir zu abſtractern und tranſcendenten Begriffen gelangen, und in der Sprache Metaphern einfuͤhren, ꝛc. daraus umſtaͤndlicher entwickeln laſſen. Wir haben ſie in der Alethiologie und Semiotik, in Ermanglung dieſer Theo- rie, ſchlechthin nur als eine Erfahrung angenommen, und den Gebrauch davon ebenfalls aus Beyſpielen angezeigt.
§. 100. Jndeſſen koͤnnen wir hier ſo viel annehmen, daß, wenn eine Empfindung durch die Bewegung der Nerven und Fibern bis in das Gehirn fortgepflanzt wird, und ſich theils communicirt, theils gleichſam ge- gen den Sitz der Gedanken convergent wird, daß wir, ſage ich, von jeden dieſen Bewegungen Empfindungen haben, und zwar deſto ſtaͤrkere, je ſtaͤrker ſie an ſich ſind. Beſonders aber macht die Communication der Bewe- gung, daß uns auch aͤhnliche vorhin gehabte Empfin-
dungen
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Von dem pſychologiſchen Schein.
fangs die hoͤhern, ſodann die untern Erkenntnißkraͤfte,
und endlich gar die Sinnen betaͤuben und fuͤr eine Zeit-
lang unbrauchbar machen koͤnnen. Dieſe und mehrere
dergleichen Erfahrungen zeigen, nicht nur, daß das Sy-
ſtem der Gedanken von dem phyſiſchen Zuſtande des
Gehirns abhaͤngt, ſondern auch, daß die feinern Gedan-
ken ſich ſtuffenweiſe nach den feinern Fibern und Bewe-
gungen in dem Gehirne richten, und mit denſelben lei-
den, ſo unbekannt uns deſſen Structur und Mechanis-
mus und die Gemeinſchaft der Seele und des Leibes
ſeyn mag.
§. 99. So viel iſt gewiß, daß wenn wir dieſe
Structur und den Mechaniſmus des Gehirns durchaus
wuͤßten, die Theorie davon uns in Abſicht auf das Ge-
dankenreich und den pſychologiſchen Schein eben den
Dienſt thun wuͤrde, den uns die Anatomie des Auges
in der Optik thut (§. 3. 4. 69.). Beſonders wuͤrde ſich
die Aehnlichkeit des Eindruckes, den die Gegen-
ſtaͤnde verſchiedener Sinnen und ſogar auch die Dinge
der Jntellectualwelt in uns machen, und wodurch wir
zu abſtractern und tranſcendenten Begriffen gelangen,
und in der Sprache Metaphern einfuͤhren, ꝛc. daraus
umſtaͤndlicher entwickeln laſſen. Wir haben ſie in der
Alethiologie und Semiotik, in Ermanglung dieſer Theo-
rie, ſchlechthin nur als eine Erfahrung angenommen, und
den Gebrauch davon ebenfalls aus Beyſpielen angezeigt.
§. 100. Jndeſſen koͤnnen wir hier ſo viel annehmen,
daß, wenn eine Empfindung durch die Bewegung der
Nerven und Fibern bis in das Gehirn fortgepflanzt
wird, und ſich theils communicirt, theils gleichſam ge-
gen den Sitz der Gedanken convergent wird, daß wir,
ſage ich, von jeden dieſen Bewegungen Empfindungen
haben, und zwar deſto ſtaͤrkere, je ſtaͤrker ſie an ſich ſind.
Beſonders aber macht die Communication der Bewe-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/285>, abgerufen am 17.07.2024.
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