Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

V. Hauptstück.
Gründen oder Erfahrung bereits erwiesener Satz sey,
obwohl er, wenn er an sich wahr ist, in die eine oder
andere dieser Classen kann gebracht werden. Der Un-
terschied, der sich hiebey findet, ist wohl zu bemerken.
Denn scheint uns ein Satz nur wahrscheinlich, der doch
an sich oder im Reiche der Wahrheiten ein Grund-
satz
ist, so liegt der Fehler nur darinn, daß wir von den
Worten nicht deutliche Begriffe haben, oder nicht ge-
nug verstehen, was die Worte sagen wollen. Denn
eben das macht ihn zum Grundsatze, daß man ihn nur
verstehen darf, um ihn ohne fernern Beweis zuzugeben.
Scheint uns hingegen ein Lehrsatz nur wahrscheinlich,
so ist es, weil wir dessen Beweis nicht vollständig einse-
hen, oder nicht wissen, daß er vollständig ist. Wir mö-
gen uns aber einen Satz als wahrscheinlich oder
als unwahrscheinlich vorstellen, so ist diese Vorstel-
lung immer mit einem deutlichen oder confusen Be-
wußtseyn eines noch unzureichenden Beweises verbun-
den, es mag nun dieser aus einer Schlußkette, oder
in Aufhäufung einzelner Schlüsse, oder aus Jnductio-
nen, copulativen oder disjunctiven Schlußreden etc. be-
stehen.

§. 223. Da wir die eigentlich so genannten Grün-
de
in der ersten Figur der Schlußreden vortragen, so
besteht bey einem nur wahrscheinlichen Schlußsatze das
Unzureichende des Grundes in einem oder mehrern von
folgenden Stücken: 1. Wenn wir von der Aklge-
meinheit
des Obersatzes nicht versichert sind, oder ver-
mittelst der 3ten Figur Exempla in contrarium finden.
Ersteres macht den Schlußsatz unzuverläßig, letzteres
giebt Gründe oder Vermuthungen für das Gegentheil.
2. Wenn wir von der Allgemeinheit des Untersatzes
nicht versichert sind. Dieses macht auch die Allgemein-
heit des Schlußsatzes ungewiß. 3. Wenn wir nicht
versichert sind, ob das Prädicat dem Subject des Unter-

satzes

V. Hauptſtuͤck.
Gruͤnden oder Erfahrung bereits erwieſener Satz ſey,
obwohl er, wenn er an ſich wahr iſt, in die eine oder
andere dieſer Claſſen kann gebracht werden. Der Un-
terſchied, der ſich hiebey findet, iſt wohl zu bemerken.
Denn ſcheint uns ein Satz nur wahrſcheinlich, der doch
an ſich oder im Reiche der Wahrheiten ein Grund-
ſatz
iſt, ſo liegt der Fehler nur darinn, daß wir von den
Worten nicht deutliche Begriffe haben, oder nicht ge-
nug verſtehen, was die Worte ſagen wollen. Denn
eben das macht ihn zum Grundſatze, daß man ihn nur
verſtehen darf, um ihn ohne fernern Beweis zuzugeben.
Scheint uns hingegen ein Lehrſatz nur wahrſcheinlich,
ſo iſt es, weil wir deſſen Beweis nicht vollſtaͤndig einſe-
hen, oder nicht wiſſen, daß er vollſtaͤndig iſt. Wir moͤ-
gen uns aber einen Satz als wahrſcheinlich oder
als unwahrſcheinlich vorſtellen, ſo iſt dieſe Vorſtel-
lung immer mit einem deutlichen oder confuſen Be-
wußtſeyn eines noch unzureichenden Beweiſes verbun-
den, es mag nun dieſer aus einer Schlußkette, oder
in Aufhaͤufung einzelner Schluͤſſe, oder aus Jnductio-
nen, copulativen oder disjunctiven Schlußreden ꝛc. be-
ſtehen.

§. 223. Da wir die eigentlich ſo genannten Gruͤn-
de
in der erſten Figur der Schlußreden vortragen, ſo
beſteht bey einem nur wahrſcheinlichen Schlußſatze das
Unzureichende des Grundes in einem oder mehrern von
folgenden Stuͤcken: 1. Wenn wir von der Aklge-
meinheit
des Oberſatzes nicht verſichert ſind, oder ver-
mittelſt der 3ten Figur Exempla in contrarium finden.
Erſteres macht den Schlußſatz unzuverlaͤßig, letzteres
giebt Gruͤnde oder Vermuthungen fuͤr das Gegentheil.
2. Wenn wir von der Allgemeinheit des Unterſatzes
nicht verſichert ſind. Dieſes macht auch die Allgemein-
heit des Schlußſatzes ungewiß. 3. Wenn wir nicht
verſichert ſind, ob das Praͤdicat dem Subject des Unter-

ſatzes
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0390" n="384"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">V.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi></fw><lb/>
Gru&#x0364;nden oder Erfahrung bereits erwie&#x017F;ener Satz &#x017F;ey,<lb/>
obwohl er, wenn er an &#x017F;ich wahr i&#x017F;t, in die eine oder<lb/>
andere die&#x017F;er Cla&#x017F;&#x017F;en kann gebracht werden. Der Un-<lb/>
ter&#x017F;chied, der &#x017F;ich hiebey findet, i&#x017F;t wohl zu bemerken.<lb/>
Denn &#x017F;cheint uns ein Satz nur wahr&#x017F;cheinlich, der doch<lb/>
an &#x017F;ich oder im Reiche der Wahrheiten ein <hi rendition="#fr">Grund-<lb/>
&#x017F;atz</hi> i&#x017F;t, &#x017F;o liegt der Fehler nur darinn, daß wir von den<lb/>
Worten nicht deutliche Begriffe haben, oder nicht ge-<lb/>
nug ver&#x017F;tehen, was die Worte &#x017F;agen wollen. Denn<lb/>
eben das macht ihn zum Grund&#x017F;atze, daß man ihn nur<lb/>
ver&#x017F;tehen darf, um ihn ohne fernern Beweis zuzugeben.<lb/>
Scheint uns hingegen ein <hi rendition="#fr">Lehr&#x017F;atz</hi> nur wahr&#x017F;cheinlich,<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t es, weil wir de&#x017F;&#x017F;en Beweis nicht voll&#x017F;ta&#x0364;ndig ein&#x017F;e-<lb/>
hen, oder nicht wi&#x017F;&#x017F;en, daß er voll&#x017F;ta&#x0364;ndig i&#x017F;t. Wir mo&#x0364;-<lb/>
gen uns aber einen Satz als <hi rendition="#fr">wahr&#x017F;cheinlich</hi> oder<lb/>
als <hi rendition="#fr">unwahr&#x017F;cheinlich</hi> vor&#x017F;tellen, &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;e Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung immer mit einem deutlichen oder confu&#x017F;en Be-<lb/>
wußt&#x017F;eyn eines noch unzureichenden Bewei&#x017F;es verbun-<lb/>
den, es mag nun die&#x017F;er aus einer Schlußkette, oder<lb/>
in Aufha&#x0364;ufung einzelner Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, oder aus Jnductio-<lb/>
nen, copulativen oder disjunctiven Schlußreden &#xA75B;c. be-<lb/>
&#x017F;tehen.</p><lb/>
          <p>§. 223. Da wir die eigentlich &#x017F;o genannten <hi rendition="#fr">Gru&#x0364;n-<lb/>
de</hi> in der er&#x017F;ten Figur der Schlußreden vortragen, &#x017F;o<lb/>
be&#x017F;teht bey einem nur wahr&#x017F;cheinlichen Schluß&#x017F;atze das<lb/>
Unzureichende des Grundes in einem oder mehrern von<lb/>
folgenden Stu&#x0364;cken: 1. Wenn wir von der <hi rendition="#fr">Aklge-<lb/>
meinheit</hi> des Ober&#x017F;atzes nicht ver&#x017F;ichert &#x017F;ind, oder ver-<lb/>
mittel&#x017F;t der 3ten Figur <hi rendition="#aq">Exempla in contrarium</hi> finden.<lb/>
Er&#x017F;teres macht den Schluß&#x017F;atz unzuverla&#x0364;ßig, letzteres<lb/>
giebt Gru&#x0364;nde oder Vermuthungen fu&#x0364;r das Gegentheil.<lb/>
2. Wenn wir von der Allgemeinheit des Unter&#x017F;atzes<lb/>
nicht ver&#x017F;ichert &#x017F;ind. Die&#x017F;es macht auch die Allgemein-<lb/>
heit des Schluß&#x017F;atzes ungewiß. 3. Wenn wir nicht<lb/>
ver&#x017F;ichert &#x017F;ind, ob das Pra&#x0364;dicat dem Subject des Unter-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;atzes</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[384/0390] V. Hauptſtuͤck. Gruͤnden oder Erfahrung bereits erwieſener Satz ſey, obwohl er, wenn er an ſich wahr iſt, in die eine oder andere dieſer Claſſen kann gebracht werden. Der Un- terſchied, der ſich hiebey findet, iſt wohl zu bemerken. Denn ſcheint uns ein Satz nur wahrſcheinlich, der doch an ſich oder im Reiche der Wahrheiten ein Grund- ſatz iſt, ſo liegt der Fehler nur darinn, daß wir von den Worten nicht deutliche Begriffe haben, oder nicht ge- nug verſtehen, was die Worte ſagen wollen. Denn eben das macht ihn zum Grundſatze, daß man ihn nur verſtehen darf, um ihn ohne fernern Beweis zuzugeben. Scheint uns hingegen ein Lehrſatz nur wahrſcheinlich, ſo iſt es, weil wir deſſen Beweis nicht vollſtaͤndig einſe- hen, oder nicht wiſſen, daß er vollſtaͤndig iſt. Wir moͤ- gen uns aber einen Satz als wahrſcheinlich oder als unwahrſcheinlich vorſtellen, ſo iſt dieſe Vorſtel- lung immer mit einem deutlichen oder confuſen Be- wußtſeyn eines noch unzureichenden Beweiſes verbun- den, es mag nun dieſer aus einer Schlußkette, oder in Aufhaͤufung einzelner Schluͤſſe, oder aus Jnductio- nen, copulativen oder disjunctiven Schlußreden ꝛc. be- ſtehen. §. 223. Da wir die eigentlich ſo genannten Gruͤn- de in der erſten Figur der Schlußreden vortragen, ſo beſteht bey einem nur wahrſcheinlichen Schlußſatze das Unzureichende des Grundes in einem oder mehrern von folgenden Stuͤcken: 1. Wenn wir von der Aklge- meinheit des Oberſatzes nicht verſichert ſind, oder ver- mittelſt der 3ten Figur Exempla in contrarium finden. Erſteres macht den Schlußſatz unzuverlaͤßig, letzteres giebt Gruͤnde oder Vermuthungen fuͤr das Gegentheil. 2. Wenn wir von der Allgemeinheit des Unterſatzes nicht verſichert ſind. Dieſes macht auch die Allgemein- heit des Schlußſatzes ungewiß. 3. Wenn wir nicht verſichert ſind, ob das Praͤdicat dem Subject des Unter- ſatzes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/390
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/390>, abgerufen am 22.11.2024.