§. 240. Diese ganze Berechnungsart geht aber nur auf das Allgemeine von der Glaubwürdigkeit der Zeu- gen, und der Summe ihrer Glaubwürdigkeiten, wenn mehrere sind. Denn es wird darinn alles ohne Aus- wahl vermengt. Man muß daher, wenn man in be- sondern Fällen nicht bey allgemeinen und verworrenen Wahrscheinlichkeiten stehen bleiben will, die Möglichkeit, daß jeder Zeuge zuweilen irren oder lügen könne, nicht so ohne Auswahl und ohne Rücksicht auf den vorgegebe- nen Fall zum Grunde setzen, und noch weniger die Mög- lichkeiten bey dem einen Zeugen ohne nähere Verglei- chung und Auswahl mit den Möglichkeiten bey den andern Zeugen verbinden, weil man auf diese Art nicht über einen öfters sehr mittelmäßigen Grad der Wahrscheinlichkeit hinausreichen würde, zumal wo die Aussagen widersprechend sind (§. 238.). Denn in einzel- nen Fällen ist es gar wohl möglich, daß ein Zeuge gerade dasjenige ersetze, was noch an der Glaubwürdigkeit des andern mangelte, und so kann die Gewißheit bey zween Zeugen vollständig wer- den, da hingegen, wenn man sie nicht genauer mit ein- ander vergleicht, auch bey mehrern Zeugen noch immer scheinbare Zweifel zurücke bleiben würden.
§. 241. Die oben schon (§. 234.) angegebene Zer- gliederung der Zeugnisse oder Aussagen, besonders wenn diese theils in den Worten, theils in den einzelnen Thei- len, von einander verschieden sind, mag hiebey, so ferne sie jedesmal angeht oder genugsame Data vorräthig sind, sehr gute Dienste thun. Denn läßt man bey jeder Aussage weg, was nicht hat empfunden werden können, und übersetzt man das übrige in die Sprache des Scheins; so läßt sich, was man heraus bringt, in Anse- hung jeder Aussage mit dem Gesichtspunkt vergleichen, aus welchem jeder Zeuge die Sache gesehen oder em- pfunden hat. Und auf diese Art werden öfters auch
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Von dem Wahrſcheinlichen.
§. 240. Dieſe ganze Berechnungsart geht aber nur auf das Allgemeine von der Glaubwuͤrdigkeit der Zeu- gen, und der Summe ihrer Glaubwuͤrdigkeiten, wenn mehrere ſind. Denn es wird darinn alles ohne Aus- wahl vermengt. Man muß daher, wenn man in be- ſondern Faͤllen nicht bey allgemeinen und verworrenen Wahrſcheinlichkeiten ſtehen bleiben will, die Moͤglichkeit, daß jeder Zeuge zuweilen irren oder luͤgen koͤnne, nicht ſo ohne Auswahl und ohne Ruͤckſicht auf den vorgegebe- nen Fall zum Grunde ſetzen, und noch weniger die Moͤg- lichkeiten bey dem einen Zeugen ohne naͤhere Verglei- chung und Auswahl mit den Moͤglichkeiten bey den andern Zeugen verbinden, weil man auf dieſe Art nicht uͤber einen oͤfters ſehr mittelmaͤßigen Grad der Wahrſcheinlichkeit hinausreichen wuͤrde, zumal wo die Ausſagen widerſprechend ſind (§. 238.). Denn in einzel- nen Faͤllen iſt es gar wohl moͤglich, daß ein Zeuge gerade dasjenige erſetze, was noch an der Glaubwuͤrdigkeit des andern mangelte, und ſo kann die Gewißheit bey zween Zeugen vollſtaͤndig wer- den, da hingegen, wenn man ſie nicht genauer mit ein- ander vergleicht, auch bey mehrern Zeugen noch immer ſcheinbare Zweifel zuruͤcke bleiben wuͤrden.
§. 241. Die oben ſchon (§. 234.) angegebene Zer- gliederung der Zeugniſſe oder Ausſagen, beſonders wenn dieſe theils in den Worten, theils in den einzelnen Thei- len, von einander verſchieden ſind, mag hiebey, ſo ferne ſie jedesmal angeht oder genugſame Data vorraͤthig ſind, ſehr gute Dienſte thun. Denn laͤßt man bey jeder Ausſage weg, was nicht hat empfunden werden koͤnnen, und uͤberſetzt man das uͤbrige in die Sprache des Scheins; ſo laͤßt ſich, was man heraus bringt, in Anſe- hung jeder Ausſage mit dem Geſichtspunkt vergleichen, aus welchem jeder Zeuge die Sache geſehen oder em- pfunden hat. Und auf dieſe Art werden oͤfters auch
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Von dem Wahrſcheinlichen.
§. 240. Dieſe ganze Berechnungsart geht aber nur
auf das Allgemeine von der Glaubwuͤrdigkeit der Zeu-
gen, und der Summe ihrer Glaubwuͤrdigkeiten, wenn
mehrere ſind. Denn es wird darinn alles ohne Aus-
wahl vermengt. Man muß daher, wenn man in be-
ſondern Faͤllen nicht bey allgemeinen und verworrenen
Wahrſcheinlichkeiten ſtehen bleiben will, die Moͤglichkeit,
daß jeder Zeuge zuweilen irren oder luͤgen koͤnne, nicht
ſo ohne Auswahl und ohne Ruͤckſicht auf den vorgegebe-
nen Fall zum Grunde ſetzen, und noch weniger die Moͤg-
lichkeiten bey dem einen Zeugen ohne naͤhere Verglei-
chung und Auswahl mit den Moͤglichkeiten bey den
andern Zeugen verbinden, weil man auf dieſe Art
nicht uͤber einen oͤfters ſehr mittelmaͤßigen Grad der
Wahrſcheinlichkeit hinausreichen wuͤrde, zumal wo die
Ausſagen widerſprechend ſind (§. 238.). Denn in einzel-
nen Faͤllen iſt es gar wohl moͤglich, daß ein Zeuge
gerade dasjenige erſetze, was noch an der
Glaubwuͤrdigkeit des andern mangelte, und ſo
kann die Gewißheit bey zween Zeugen vollſtaͤndig wer-
den, da hingegen, wenn man ſie nicht genauer mit ein-
ander vergleicht, auch bey mehrern Zeugen noch immer
ſcheinbare Zweifel zuruͤcke bleiben wuͤrden.
§. 241. Die oben ſchon (§. 234.) angegebene Zer-
gliederung der Zeugniſſe oder Ausſagen, beſonders wenn
dieſe theils in den Worten, theils in den einzelnen Thei-
len, von einander verſchieden ſind, mag hiebey, ſo ferne
ſie jedesmal angeht oder genugſame Data vorraͤthig ſind,
ſehr gute Dienſte thun. Denn laͤßt man bey jeder
Ausſage weg, was nicht hat empfunden werden koͤnnen,
und uͤberſetzt man das uͤbrige in die Sprache des
Scheins; ſo laͤßt ſich, was man heraus bringt, in Anſe-
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aus welchem jeder Zeuge die Sache geſehen oder em-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/409>, abgerufen am 21.11.2024.
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