Art des Scheins angemerkt haben, öfters künstlichere Proben angestellt werden müssen, wenn man sich durch das Blendwerk nicht will betriegen noch täuschen lassen.
§. 269. Das Theater beut uns ferner einen be- trächtlichen Theil der allgemeinen Perspective an, weil es in allen Absichten desto vollkommener ist, je genauer jede Theile die Sache selbst vor Augen zu stellen schei- nen. Da die Einschränkung auf eine sehr kurze Zeit, und mäßig geräumigen Ort diese Nachahmung dessen, was in der Welt vorgeht, eben nicht durchaus möglich macht; so ist die Frage, was der Zuschauer sehen, oder was er nur erzählungsweise vernehmen soll, in Absicht auf die Schauspiele, von nicht geringer Erheblichkeit, wenn man wenigstens das gar zu Unna- türliche in der Vorstellung vermeiden will. Denn bey kleinern Abweichungen von dem Natürlichen im Schein ist es gar wohl möglich, die Aufmerksamkeit des Zu- schauers stärker auf die Hauptsache zu lenken, daß er das übrige nicht achtet, oder es entschuldigt. Die Strei- tigkeiten, die in dieser Absicht über den Cid des Cor- neille sind geführt worden, sind bekannt, und mögen einem Kunstrichter Stoff geben, die hier vorgelegte Fra- ge aus ihren wahren Gründen zu erörtern, wie ferne man, ohne wider das Natürliche merklich zu verstos- sen, in Schauspielen dem Zuschauer mehr als eine bloße Unterredung vorstellen könne?
§. 270. Wir können ferner jede Nachahmung der Geberden und Reden anderer Menschen, und noch viel- mehr jede Verstellung, als einzelne Stücke der tran- scendenten Perspective ansehen, weil bey Verstellungen der Schein einer ganz andern Gemüthsverfassung, Ab- sicht, Vorsatzes, Charakters etc. gezeigt wird, als wirklich in dem Menschen ist, der sich verstellt, dieser Schein mag nun in Geberden, Worten oder Handlungen, oder in allen zugleich bestehen. Die geschickte und unge-
zwungene
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Von der Zeichnung des Scheins.
Art des Scheins angemerkt haben, oͤfters kuͤnſtlichere Proben angeſtellt werden muͤſſen, wenn man ſich durch das Blendwerk nicht will betriegen noch taͤuſchen laſſen.
§. 269. Das Theater beut uns ferner einen be- traͤchtlichen Theil der allgemeinen Perſpective an, weil es in allen Abſichten deſto vollkommener iſt, je genauer jede Theile die Sache ſelbſt vor Augen zu ſtellen ſchei- nen. Da die Einſchraͤnkung auf eine ſehr kurze Zeit, und maͤßig geraͤumigen Ort dieſe Nachahmung deſſen, was in der Welt vorgeht, eben nicht durchaus moͤglich macht; ſo iſt die Frage, was der Zuſchauer ſehen, oder was er nur erzaͤhlungsweiſe vernehmen ſoll, in Abſicht auf die Schauſpiele, von nicht geringer Erheblichkeit, wenn man wenigſtens das gar zu Unna- tuͤrliche in der Vorſtellung vermeiden will. Denn bey kleinern Abweichungen von dem Natuͤrlichen im Schein iſt es gar wohl moͤglich, die Aufmerkſamkeit des Zu- ſchauers ſtaͤrker auf die Hauptſache zu lenken, daß er das uͤbrige nicht achtet, oder es entſchuldigt. Die Strei- tigkeiten, die in dieſer Abſicht uͤber den Cid des Cor- neille ſind gefuͤhrt worden, ſind bekannt, und moͤgen einem Kunſtrichter Stoff geben, die hier vorgelegte Fra- ge aus ihren wahren Gruͤnden zu eroͤrtern, wie ferne man, ohne wider das Natuͤrliche merklich zu verſtoſ- ſen, in Schauſpielen dem Zuſchauer mehr als eine bloße Unterredung vorſtellen koͤnne?
§. 270. Wir koͤnnen ferner jede Nachahmung der Geberden und Reden anderer Menſchen, und noch viel- mehr jede Verſtellung, als einzelne Stuͤcke der tran- ſcendenten Perſpective anſehen, weil bey Verſtellungen der Schein einer ganz andern Gemuͤthsverfaſſung, Ab- ſicht, Vorſatzes, Charakters ꝛc. gezeigt wird, als wirklich in dem Menſchen iſt, der ſich verſtellt, dieſer Schein mag nun in Geberden, Worten oder Handlungen, oder in allen zugleich beſtehen. Die geſchickte und unge-
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Von der Zeichnung des Scheins.
Art des Scheins angemerkt haben, oͤfters kuͤnſtlichere
Proben angeſtellt werden muͤſſen, wenn man ſich durch
das Blendwerk nicht will betriegen noch taͤuſchen laſſen.
§. 269. Das Theater beut uns ferner einen be-
traͤchtlichen Theil der allgemeinen Perſpective an, weil
es in allen Abſichten deſto vollkommener iſt, je genauer
jede Theile die Sache ſelbſt vor Augen zu ſtellen ſchei-
nen. Da die Einſchraͤnkung auf eine ſehr kurze Zeit,
und maͤßig geraͤumigen Ort dieſe Nachahmung deſſen,
was in der Welt vorgeht, eben nicht durchaus moͤglich
macht; ſo iſt die Frage, was der Zuſchauer ſehen,
oder was er nur erzaͤhlungsweiſe vernehmen
ſoll, in Abſicht auf die Schauſpiele, von nicht geringer
Erheblichkeit, wenn man wenigſtens das gar zu Unna-
tuͤrliche in der Vorſtellung vermeiden will. Denn bey
kleinern Abweichungen von dem Natuͤrlichen im Schein
iſt es gar wohl moͤglich, die Aufmerkſamkeit des Zu-
ſchauers ſtaͤrker auf die Hauptſache zu lenken, daß er
das uͤbrige nicht achtet, oder es entſchuldigt. Die Strei-
tigkeiten, die in dieſer Abſicht uͤber den Cid des Cor-
neille ſind gefuͤhrt worden, ſind bekannt, und moͤgen
einem Kunſtrichter Stoff geben, die hier vorgelegte Fra-
ge aus ihren wahren Gruͤnden zu eroͤrtern, wie ferne
man, ohne wider das Natuͤrliche merklich zu verſtoſ-
ſen, in Schauſpielen dem Zuſchauer mehr als eine bloße
Unterredung vorſtellen koͤnne?
§. 270. Wir koͤnnen ferner jede Nachahmung der
Geberden und Reden anderer Menſchen, und noch viel-
mehr jede Verſtellung, als einzelne Stuͤcke der tran-
ſcendenten Perſpective anſehen, weil bey Verſtellungen
der Schein einer ganz andern Gemuͤthsverfaſſung, Ab-
ſicht, Vorſatzes, Charakters ꝛc. gezeigt wird, als wirklich
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/429>, abgerufen am 21.11.2024.
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