Das Dreyzehende Capitel, Darinnen Der Apostel zum Beschluß noch allerhand nöthige und nützliche Erinnerungen giebt/ als von der Bruder-Liebe/ der Gastfreyheit/ dem liebreichen Andencken der Gefangnen/ von der Keuschheit in der Ehe/ von der Vergnüglichkeit und Folgsamkeit gegen die Lehrer/ und sonderlich von der Beständigkeit bey dem Evangelio von Christo/ und endlich den ei- gentlichen Beschluß machet mit dem Verlangen um die Fürbitte/ mit der Bezeugung eines guten Gewissens/ der Versprechung der Zukunft und mit einem Apostolischen Segens- Wunsche.
V. 1.
BLeibet vest in der brüderlichen Liebe.
Anmerckungen.
1. Von der brüderlichen Liebe sind zur Erläuterung dieses Orts folgende Puncte zu mercken: ihr Grund, ihre Beschaffenheit, ihr wircklicher Beweiß, ihre Hin- derungen, und die Bewegungs-Gründe zu ihrer Beforderung: und endlich der besondere Nu- tzen, welchen angefochtene Seelen daraus ha- ben; wie auch der von der Bruder-Liebe han- delnde nachdrücklichste Ort.
2. Der Grund der Bruder-Liebe ist die Kindschaft GOttes; als wodurch die natür- liche von der übernatürlichen, oder geistlichen Bruder-Liebe recht unterschieden wird. So bald einer in der Ordnung der Wiedergeburt ein Kind GOttes wird, und GOtt liebet, so ler- net er auch andere Kinder GOttes kennen und von unbekehrten Welt-Kindern unterscheiden. Da heißt es alsdenn: Wer da liebet den, der ihn geboren hat, der liebet auch den, der von ihm geboren ist. Gehet es doch auch nach der Natur also, daß einer, der den Vater liebet, auch seine Kinder liebe, zumal die wohlge- arteten. Und also hat die wahre Bruder-Liebe GOttes Gnade und die Wirckung des heiligen Geistes zu ihrem Ursprunge.
3. Die eigentliche Beschaffenheit der Bruder-Liebe bestehet in einer aus der Gemein- schaft des geistlichen Sinnes herrührenden inni- gen Zueignung eines rechtschaffnen Kindes Got- tes gegen dem andern, vermöge welcher man denselben um GOttes Willen, der sein Gnaden- Werck in ihm hat, wehrt hält, und bereit ist, sei- ne Wohlfahrt, sonderlich die geistliche, zu befor- dern, und solche Bereitwilligkeit bey aller Gele- genheit erweiset, auch so wol an dem Guten zur Freude, als an dem Ubel des andern zum Mitlei- den Theil nimmt.
4. Der wirckliche Beweis der Bruder- Liebe bestehet theils innerlich in der aufrichtigen Ergebenheit, welche sich sonderlich im hertzli- [Spaltenumbruch]
chen Wunsche, auch in der Fürbitte hervorthut, theils äusserlich in einem solchen liebreichen Um- gange, da man des andern Wehrtschätzung ohne Schmeicheley bey Gelegenheit aufrichtig zu er- kennen giebet, seine angemerckte Schwachheiten und Fehler träget und nach Vermögen zu ver- bessern, oder auch sich aus desselben guten Exem- pel zu erbauen suchet, und sich in der That auf allerhand Art dienstfertig erfinden läßt. Es ist gewiß eine edele Sache um die wahre Bruder- Liebe. Denn sie ist der Seelen erquicklich und vergnüglich, und solchergestalt ist es, sie gegen rechtschaffne Kinder GOttes in sich zu emfinden, mehr eine Gnaden-Wohlthat, nach dem Evan- gelio, als eine Pflicht nach dem Gesetze.
5. Die Hinderungen der Bruder-Liebe liegen fürnemlich in der Schwachheit und in den Fehlern, welche man bey andern findet. Denn weil man diese gemeiniglich eher und mehr einsiehet, als seine eigene, und sie selten aufs gütigste nach ihren Veranlassungen beurtheilet, so enstehet daher ein Anstoß nach dem andern; und aus diesem die Entfremdung, oder die Kalt- sinnigkeit des Gemüths. Da man hingegen er- wegen solte, wie daß man gewisse Schwachhei- ten, die gleichsam einige moralische idiotismi sind, von der herrschenden Bosheit eines noch rohen und unbekehrten Sinnes, (als welche sich bey keinem geistlichen Bruder und keiner Schwe- ster befinden muß) wohl zu unterscheiden und in Liebe theils zu bessern, theils zu tragen habe.
6. Die Gründe, welche die Bruder-Liebe in uns befordern können, sind, ausser dem erkann- ten wohlgefälligen Willen GOttes, sonderlich die Vorstellungen theils von der tragenden und besserenden Liebe GOttes gegen uns, theils die gliederliche Gemeinschaft, darinn man sich unter dem hochgelobten Haupte Christo, an seinem geistlichen Leibe mit andern befindet; theils auch die Betrachtung der durch die Gna- de GOttes geheiligten Regel des Natur-Rechts: alles, was ihr wollet, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihnen Matth. 7, 12. Nach diesen Gründen heißt es denn, die brü-
derliche
Cap. 13. v. 1. an die Hebraͤer.
[Spaltenumbruch]
Das Dreyzehende Capitel, Darinnen Der Apoſtel zum Beſchluß noch allerhand noͤthige und nuͤtzliche Erinnerungen giebt/ als von der Bruder-Liebe/ der Gaſtfreyheit/ dem liebreichen Andencken der Gefangnen/ von der Keuſchheit in der Ehe/ von der Vergnuͤglichkeit und Folgſamkeit gegen die Lehrer/ und ſonderlich von der Beſtaͤndigkeit bey dem Evangelio von Chriſto/ und endlich den ei- gentlichen Beſchluß machet mit dem Verlangen um die Fuͤrbitte/ mit der Bezeugung eines guten Gewiſſens/ der Verſprechung der Zukunft und mit einem Apoſtoliſchen Segens- Wunſche.
V. 1.
BLeibet veſt in der bruͤderlichen Liebe.
Anmerckungen.
1. Von der bruͤderlichen Liebe ſind zur Erlaͤuterung dieſes Orts folgende Puncte zu mercken: ihr Grund, ihre Beſchaffenheit, ihr wircklicher Beweiß, ihre Hin- derungen, und die Bewegungs-Gruͤnde zu ihrer Beforderung: und endlich der beſondere Nu- tzen, welchen angefochtene Seelen daraus ha- ben; wie auch der von der Bruder-Liebe han- delnde nachdruͤcklichſte Ort.
2. Der Grund der Bruder-Liebe iſt die Kindſchaft GOttes; als wodurch die natuͤr- liche von der uͤbernatuͤrlichen, oder geiſtlichen Bruder-Liebe recht unterſchieden wird. So bald einer in der Ordnung der Wiedergeburt ein Kind GOttes wird, und GOtt liebet, ſo ler- net er auch andere Kinder GOttes kennen und von unbekehrten Welt-Kindern unterſcheiden. Da heißt es alsdenn: Wer da liebet den, der ihn geboren hat, der liebet auch den, der von ihm geboren iſt. Gehet es doch auch nach der Natur alſo, daß einer, der den Vater liebet, auch ſeine Kinder liebe, zumal die wohlge- arteten. Und alſo hat die wahre Bruder-Liebe GOttes Gnade und die Wirckung des heiligen Geiſtes zu ihrem Urſprunge.
3. Die eigentliche Beſchaffenheit der Bruder-Liebe beſtehet in einer aus der Gemein- ſchaft des geiſtlichen Sinnes herruͤhrenden inni- gen Zueignung eines rechtſchaffnen Kindes Got- tes gegen dem andern, vermoͤge welcher man denſelben um GOttes Willen, der ſein Gnaden- Werck in ihm hat, wehrt haͤlt, und bereit iſt, ſei- ne Wohlfahrt, ſonderlich die geiſtliche, zu befor- dern, und ſolche Bereitwilligkeit bey aller Gele- genheit erweiſet, auch ſo wol an dem Guten zur Freude, als an dem Ubel des andern zum Mitlei- den Theil nimmt.
4. Der wirckliche Beweis der Bruder- Liebe beſtehet theils innerlich in der aufrichtigen Ergebenheit, welche ſich ſonderlich im hertzli- [Spaltenumbruch]
chen Wunſche, auch in der Fuͤrbitte hervorthut, theils aͤuſſerlich in einem ſolchen liebreichen Um- gange, da man des andern Wehrtſchaͤtzung ohne Schmeicheley bey Gelegenheit aufrichtig zu er- kennen giebet, ſeine angemerckte Schwachheiten und Fehler traͤget und nach Vermoͤgen zu ver- beſſern, oder auch ſich aus deſſelben guten Exem- pel zu erbauen ſuchet, und ſich in der That auf allerhand Art dienſtfertig erfinden laͤßt. Es iſt gewiß eine edele Sache um die wahre Bruder- Liebe. Denn ſie iſt der Seelen erquicklich und vergnuͤglich, und ſolchergeſtalt iſt es, ſie gegen rechtſchaffne Kinder GOttes in ſich zu emfinden, mehr eine Gnaden-Wohlthat, nach dem Evan- gelio, als eine Pflicht nach dem Geſetze.
5. Die Hinderungen der Bruder-Liebe liegen fuͤrnemlich in der Schwachheit und in den Fehlern, welche man bey andern findet. Denn weil man dieſe gemeiniglich eher und mehr einſiehet, als ſeine eigene, und ſie ſelten aufs guͤtigſte nach ihren Veranlaſſungen beurtheilet, ſo enſtehet daher ein Anſtoß nach dem andern; und aus dieſem die Entfremdung, oder die Kalt- ſinnigkeit des Gemuͤths. Da man hingegen er- wegen ſolte, wie daß man gewiſſe Schwachhei- ten, die gleichſam einige moraliſche idiotiſmi ſind, von der herrſchenden Bosheit eines noch rohen und unbekehrten Sinnes, (als welche ſich bey keinem geiſtlichen Bruder und keiner Schwe- ſter befinden muß) wohl zu unterſcheiden und in Liebe theils zu beſſern, theils zu tragen habe.
6. Die Gruͤnde, welche die Bruder-Liebe in uns befordern koͤnnen, ſind, auſſer dem erkann- ten wohlgefaͤlligen Willen GOttes, ſonderlich die Vorſtellungen theils von der tragenden und beſſerenden Liebe GOttes gegen uns, theils die gliederliche Gemeinſchaft, darinn man ſich unter dem hochgelobten Haupte Chriſto, an ſeinem geiſtlichen Leibe mit andern befindet; theils auch die Betrachtung der durch die Gna- de GOttes geheiligten Regel des Natur-Rechts: alles, was ihr wollet, daß euch die Leute thun ſollen, das thut ihnen Matth. 7, 12. Nach dieſen Gruͤnden heißt es denn, die bruͤ-
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[407/0409]
Cap. 13. v. 1. an die Hebraͤer.
Das Dreyzehende Capitel,
Darinnen
Der Apoſtel zum Beſchluß noch allerhand noͤthige und
nuͤtzliche Erinnerungen giebt/ als von der Bruder-Liebe/ der Gaſtfreyheit/
dem liebreichen Andencken der Gefangnen/ von der Keuſchheit in der Ehe/
von der Vergnuͤglichkeit und Folgſamkeit gegen die Lehrer/ und ſonderlich
von der Beſtaͤndigkeit bey dem Evangelio von Chriſto/ und endlich den ei-
gentlichen Beſchluß machet mit dem Verlangen um die Fuͤrbitte/ mit der
Bezeugung eines guten Gewiſſens/ der Verſprechung der Zukunft
und mit einem Apoſtoliſchen Segens-
Wunſche.
V. 1.
BLeibet veſt in der bruͤderlichen
Liebe.
Anmerckungen.
1. Von der bruͤderlichen Liebe
ſind zur Erlaͤuterung dieſes Orts
folgende Puncte zu mercken: ihr Grund, ihre
Beſchaffenheit, ihr wircklicher Beweiß, ihre Hin-
derungen, und die Bewegungs-Gruͤnde zu ihrer
Beforderung: und endlich der beſondere Nu-
tzen, welchen angefochtene Seelen daraus ha-
ben; wie auch der von der Bruder-Liebe han-
delnde nachdruͤcklichſte Ort.
2. Der Grund der Bruder-Liebe iſt die
Kindſchaft GOttes; als wodurch die natuͤr-
liche von der uͤbernatuͤrlichen, oder geiſtlichen
Bruder-Liebe recht unterſchieden wird. So
bald einer in der Ordnung der Wiedergeburt
ein Kind GOttes wird, und GOtt liebet, ſo ler-
net er auch andere Kinder GOttes kennen und
von unbekehrten Welt-Kindern unterſcheiden.
Da heißt es alsdenn: Wer da liebet den, der
ihn geboren hat, der liebet auch den, der
von ihm geboren iſt. Gehet es doch auch
nach der Natur alſo, daß einer, der den Vater
liebet, auch ſeine Kinder liebe, zumal die wohlge-
arteten. Und alſo hat die wahre Bruder-Liebe
GOttes Gnade und die Wirckung des heiligen
Geiſtes zu ihrem Urſprunge.
3. Die eigentliche Beſchaffenheit der
Bruder-Liebe beſtehet in einer aus der Gemein-
ſchaft des geiſtlichen Sinnes herruͤhrenden inni-
gen Zueignung eines rechtſchaffnen Kindes Got-
tes gegen dem andern, vermoͤge welcher man
denſelben um GOttes Willen, der ſein Gnaden-
Werck in ihm hat, wehrt haͤlt, und bereit iſt, ſei-
ne Wohlfahrt, ſonderlich die geiſtliche, zu befor-
dern, und ſolche Bereitwilligkeit bey aller Gele-
genheit erweiſet, auch ſo wol an dem Guten zur
Freude, als an dem Ubel des andern zum Mitlei-
den Theil nimmt.
4. Der wirckliche Beweis der Bruder-
Liebe beſtehet theils innerlich in der aufrichtigen
Ergebenheit, welche ſich ſonderlich im hertzli-
chen Wunſche, auch in der Fuͤrbitte hervorthut,
theils aͤuſſerlich in einem ſolchen liebreichen Um-
gange, da man des andern Wehrtſchaͤtzung ohne
Schmeicheley bey Gelegenheit aufrichtig zu er-
kennen giebet, ſeine angemerckte Schwachheiten
und Fehler traͤget und nach Vermoͤgen zu ver-
beſſern, oder auch ſich aus deſſelben guten Exem-
pel zu erbauen ſuchet, und ſich in der That auf
allerhand Art dienſtfertig erfinden laͤßt. Es iſt
gewiß eine edele Sache um die wahre Bruder-
Liebe. Denn ſie iſt der Seelen erquicklich und
vergnuͤglich, und ſolchergeſtalt iſt es, ſie gegen
rechtſchaffne Kinder GOttes in ſich zu emfinden,
mehr eine Gnaden-Wohlthat, nach dem Evan-
gelio, als eine Pflicht nach dem Geſetze.
5. Die Hinderungen der Bruder-Liebe
liegen fuͤrnemlich in der Schwachheit und in
den Fehlern, welche man bey andern findet.
Denn weil man dieſe gemeiniglich eher und mehr
einſiehet, als ſeine eigene, und ſie ſelten aufs
guͤtigſte nach ihren Veranlaſſungen beurtheilet,
ſo enſtehet daher ein Anſtoß nach dem andern;
und aus dieſem die Entfremdung, oder die Kalt-
ſinnigkeit des Gemuͤths. Da man hingegen er-
wegen ſolte, wie daß man gewiſſe Schwachhei-
ten, die gleichſam einige moraliſche idiotiſmi
ſind, von der herrſchenden Bosheit eines noch
rohen und unbekehrten Sinnes, (als welche ſich
bey keinem geiſtlichen Bruder und keiner Schwe-
ſter befinden muß) wohl zu unterſcheiden und in
Liebe theils zu beſſern, theils zu tragen habe.
6. Die Gruͤnde, welche die Bruder-Liebe in
uns befordern koͤnnen, ſind, auſſer dem erkann-
ten wohlgefaͤlligen Willen GOttes, ſonderlich
die Vorſtellungen theils von der tragenden und
beſſerenden Liebe GOttes gegen uns, theils
die gliederliche Gemeinſchaft, darinn man
ſich unter dem hochgelobten Haupte Chriſto, an
ſeinem geiſtlichen Leibe mit andern befindet;
theils auch die Betrachtung der durch die Gna-
de GOttes geheiligten Regel des Natur-Rechts:
alles, was ihr wollet, daß euch die Leute
thun ſollen, das thut ihnen Matth. 7, 12.
Nach dieſen Gruͤnden heißt es denn, die bruͤ-
derliche
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Lange, Joachim: Des Apostolischen Lichts und Rechts. Bd. 2. Halle, 1729, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht02_1729/409>, abgerufen am 22.11.2024.
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