"habe keine Verwandten mehr, als diese "Gebeine, sagte sie. Die Gräfin Löbau "ist nicht meine Verwandtin; ihre Seele "ist mir fremde, ganz fremde, ich liebe sie "nur, weil sie die Schwester meines "Oheims war." Mein Vater suchte ihr diese Abneigung, als eine Ungerechtigkeit, zu benehmen, und war überhaupt bemüht, alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er- neuern, und besonders auch ihr Talent für die Musik zu unterhalten. Er sagte uns oft: Daß es gut und wahr wäre, daß die Tugenden alle an einer Kette gien- gen, und also die Beschaffenheit auch mit dabey sey. Und was würde auch aus der Fräulein von Sternheim geworden seyn, wenn sie sich aller ihrer Vorzüge in der Vollkommenheit bewußt gewesen wäre, worinn sie sie besaß?
Der Sternheimische Beamte, ein recht- schaffener Mann, heyrathete um diese Zeit meine älteste Schwester; und sein Bruder, ein Pfarrer, der ihn besuchte, nahm meine Emilia mit sich; mit dieser führte unser Fräulein einen Briefwechsel,
welcher
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„habe keine Verwandten mehr, als dieſe „Gebeine, ſagte ſie. Die Graͤfin Loͤbau „iſt nicht meine Verwandtin; ihre Seele „iſt mir fremde, ganz fremde, ich liebe ſie „nur, weil ſie die Schweſter meines „Oheims war.“ Mein Vater ſuchte ihr dieſe Abneigung, als eine Ungerechtigkeit, zu benehmen, und war uͤberhaupt bemuͤht, alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er- neuern, und beſonders auch ihr Talent fuͤr die Muſik zu unterhalten. Er ſagte uns oft: Daß es gut und wahr waͤre, daß die Tugenden alle an einer Kette gien- gen, und alſo die Beſchaffenheit auch mit dabey ſey. Und was wuͤrde auch aus der Fraͤulein von Sternheim geworden ſeyn, wenn ſie ſich aller ihrer Vorzuͤge in der Vollkommenheit bewußt geweſen waͤre, worinn ſie ſie beſaß?
Der Sternheimiſche Beamte, ein recht- ſchaffener Mann, heyrathete um dieſe Zeit meine aͤlteſte Schweſter; und ſein Bruder, ein Pfarrer, der ihn beſuchte, nahm meine Emilia mit ſich; mit dieſer fuͤhrte unſer Fraͤulein einen Briefwechſel,
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„Oheims war.“ Mein Vater ſuchte ihr
dieſe Abneigung, als eine Ungerechtigkeit,
zu benehmen, und war uͤberhaupt bemuͤht,
alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er-
neuern, und beſonders auch ihr Talent
fuͤr die Muſik zu unterhalten. Er ſagte
uns oft: Daß es gut und wahr waͤre,
daß die Tugenden alle an einer Kette gien-
gen, und alſo die Beſchaffenheit auch mit
dabey ſey. Und was wuͤrde auch aus
der Fraͤulein von Sternheim geworden
ſeyn, wenn ſie ſich aller ihrer Vorzuͤge in
der Vollkommenheit bewußt geweſen waͤre,
worinn ſie ſie beſaß?
Der Sternheimiſche Beamte, ein recht-
ſchaffener Mann, heyrathete um dieſe
Zeit meine aͤlteſte Schweſter; und ſein
Bruder, ein Pfarrer, der ihn beſuchte,
nahm meine Emilia mit ſich; mit dieſer
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/107>, abgerufen am 23.11.2024.
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