Niemals, meine Emilia, war ich glück- licher, als zu der Zeit, da dieser einsichts- volle Ausspäher der kleinsten Falten des menschlichen Herzens, dem meinigen das Zeugniß edler und tugendhafter Neigun- gen beylegte. Er verwies mir, mit der achtsamsten Güte, meine Zaghaftigkeit und Zurückhaltung in Beurtheilung der Werke des Geistes, und schrieb mir eine rich- tige Empfindung zu, welche mich berech- tigte meine Gedanken so gut als andre zu sagen. Doch bat er mich weder im Re- den noch im Schreiben einen männlichen Ton zu suchen. Er behauptete, daß es die Wirkung eines falschen Geschmacks sey, männliche Eigenschaften des Geistes
und
geben, wahrgenommen, und zugleich gesunden, daß ihr gerade dieses am wenigsten gelingen wolle. Jhn habe bedünkt, das, worinn ihre Stärke liegt, sey die Feinheit der Empfindung, der Beobach- tungsgeist, und eine wunderbare, und gleichsam zwischen allen ihren Seelenkräften abgeredete Ge- schäfftigkeit derselben, bey jeder Gelegenheit die Güte ihres Herzens thätig zu machen; und dieses habe er eigentlich dem Fräulein von St. sagen wollen. H.
Niemals, meine Emilia, war ich gluͤck- licher, als zu der Zeit, da dieſer einſichts- volle Ausſpaͤher der kleinſten Falten des menſchlichen Herzens, dem meinigen das Zeugniß edler und tugendhafter Neigun- gen beylegte. Er verwies mir, mit der achtſamſten Guͤte, meine Zaghaftigkeit und Zuruͤckhaltung in Beurtheilung der Werke des Geiſtes, und ſchrieb mir eine rich- tige Empfindung zu, welche mich berech- tigte meine Gedanken ſo gut als andre zu ſagen. Doch bat er mich weder im Re- den noch im Schreiben einen maͤnnlichen Ton zu ſuchen. Er behauptete, daß es die Wirkung eines falſchen Geſchmacks ſey, maͤnnliche Eigenſchaften des Geiſtes
und
geben, wahrgenommen, und zugleich geſunden, daß ihr gerade dieſes am wenigſten gelingen wolle. Jhn habe beduͤnkt, das, worinn ihre Staͤrke liegt, ſey die Feinheit der Empfindung, der Beobach- tungsgeiſt, und eine wunderbare, und gleichſam zwiſchen allen ihren Seelenkraͤften abgeredete Ge- ſchaͤfftigkeit derſelben, bey jeder Gelegenheit die Guͤte ihres Herzens thaͤtig zu machen; und dieſes habe er eigentlich dem Fraͤulein von St. ſagen wollen. H.
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Niemals, meine Emilia, war ich gluͤck-
licher, als zu der Zeit, da dieſer einſichts-
volle Ausſpaͤher der kleinſten Falten des
menſchlichen Herzens, dem meinigen das
Zeugniß edler und tugendhafter Neigun-
gen beylegte. Er verwies mir, mit der
achtſamſten Guͤte, meine Zaghaftigkeit und
Zuruͤckhaltung in Beurtheilung der Werke
des Geiſtes, und ſchrieb mir eine rich-
tige Empfindung zu, welche mich berech-
tigte meine Gedanken ſo gut als andre zu
ſagen. Doch bat er mich weder im Re-
den noch im Schreiben einen maͤnnlichen
Ton zu ſuchen. Er behauptete, daß es
die Wirkung eines falſchen Geſchmacks
ſey, maͤnnliche Eigenſchaften des Geiſtes
und
**)
**) geben, wahrgenommen, und zugleich geſunden,
daß ihr gerade dieſes am wenigſten gelingen wolle.
Jhn habe beduͤnkt, das, worinn ihre Staͤrke liegt,
ſey die Feinheit der Empfindung, der Beobach-
tungsgeiſt, und eine wunderbare, und gleichſam
zwiſchen allen ihren Seelenkraͤften abgeredete Ge-
ſchaͤfftigkeit derſelben, bey jeder Gelegenheit die
Guͤte ihres Herzens thaͤtig zu machen; und dieſes
habe er eigentlich dem Fraͤulein von St. ſagen
wollen. H.
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/247>, abgerufen am 16.02.2025.
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