[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.Niemals, meine Emilia, war ich glück- und geben, wahrgenommen, und zugleich gesunden,
daß ihr gerade dieses am wenigsten gelingen wolle. Jhn habe bedünkt, das, worinn ihre Stärke liegt, sey die Feinheit der Empfindung, der Beobach- tungsgeist, und eine wunderbare, und gleichsam zwischen allen ihren Seelenkräften abgeredete Ge- schäfftigkeit derselben, bey jeder Gelegenheit die Güte ihres Herzens thätig zu machen; und dieses habe er eigentlich dem Fräulein von St. sagen wollen. H. Niemals, meine Emilia, war ich gluͤck- und geben, wahrgenommen, und zugleich geſunden,
daß ihr gerade dieſes am wenigſten gelingen wolle. Jhn habe beduͤnkt, das, worinn ihre Staͤrke liegt, ſey die Feinheit der Empfindung, der Beobach- tungsgeiſt, und eine wunderbare, und gleichſam zwiſchen allen ihren Seelenkraͤften abgeredete Ge- ſchaͤfftigkeit derſelben, bey jeder Gelegenheit die Guͤte ihres Herzens thaͤtig zu machen; und dieſes habe er eigentlich dem Fraͤulein von St. ſagen wollen. H. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0247" n="221"/> <p>Niemals, meine Emilia, war ich gluͤck-<lb/> licher, als zu der Zeit, da dieſer einſichts-<lb/> volle Ausſpaͤher der kleinſten Falten des<lb/> menſchlichen Herzens, dem meinigen das<lb/> Zeugniß edler und tugendhafter Neigun-<lb/> gen beylegte. Er verwies mir, mit der<lb/> achtſamſten Guͤte, meine Zaghaftigkeit und<lb/> Zuruͤckhaltung in Beurtheilung der Werke<lb/> des Geiſtes, und ſchrieb mir eine rich-<lb/> tige Empfindung zu, welche mich berech-<lb/> tigte meine Gedanken ſo gut als andre zu<lb/> ſagen. Doch bat er mich weder im Re-<lb/> den noch im Schreiben einen maͤnnlichen<lb/> Ton zu ſuchen. Er behauptete, daß es<lb/> die Wirkung eines falſchen Geſchmacks<lb/> ſey, maͤnnliche Eigenſchaften des Geiſtes<lb/> <fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/><note xml:id="seg2pn_3_2" prev="#seg2pn_3_1" place="foot" n="**)">geben, wahrgenommen, und zugleich geſunden,<lb/> daß ihr gerade dieſes am wenigſten gelingen wolle.<lb/> Jhn habe beduͤnkt, das, worinn ihre Staͤrke liegt,<lb/> ſey die Feinheit der Empfindung, der Beobach-<lb/> tungsgeiſt, und eine wunderbare, und gleichſam<lb/> zwiſchen allen ihren Seelenkraͤften abgeredete Ge-<lb/> ſchaͤfftigkeit derſelben, bey jeder Gelegenheit die<lb/> Guͤte ihres Herzens <hi rendition="#fr">thaͤtig</hi> zu machen; und dieſes<lb/> habe er eigentlich dem Fraͤulein von St. ſagen<lb/> wollen. H.</note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [221/0247]
Niemals, meine Emilia, war ich gluͤck-
licher, als zu der Zeit, da dieſer einſichts-
volle Ausſpaͤher der kleinſten Falten des
menſchlichen Herzens, dem meinigen das
Zeugniß edler und tugendhafter Neigun-
gen beylegte. Er verwies mir, mit der
achtſamſten Guͤte, meine Zaghaftigkeit und
Zuruͤckhaltung in Beurtheilung der Werke
des Geiſtes, und ſchrieb mir eine rich-
tige Empfindung zu, welche mich berech-
tigte meine Gedanken ſo gut als andre zu
ſagen. Doch bat er mich weder im Re-
den noch im Schreiben einen maͤnnlichen
Ton zu ſuchen. Er behauptete, daß es
die Wirkung eines falſchen Geſchmacks
ſey, maͤnnliche Eigenſchaften des Geiſtes
und
**)
**) geben, wahrgenommen, und zugleich geſunden,
daß ihr gerade dieſes am wenigſten gelingen wolle.
Jhn habe beduͤnkt, das, worinn ihre Staͤrke liegt,
ſey die Feinheit der Empfindung, der Beobach-
tungsgeiſt, und eine wunderbare, und gleichſam
zwiſchen allen ihren Seelenkraͤften abgeredete Ge-
ſchaͤfftigkeit derſelben, bey jeder Gelegenheit die
Guͤte ihres Herzens thaͤtig zu machen; und dieſes
habe er eigentlich dem Fraͤulein von St. ſagen
wollen. H.
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