Fünfter Abschnitt. Jüdische und arabische Philosophen.
1. Die Karaim.
Maßgebenden Einfluß haben Methode und Lehren der Mutakallimun auf die jüdische Sekte der Karaim (Anhänger des Textes) ausgeübt, welche von der babylonischen Akademie durch Anan ben David, einen ihrer vorzüglichsten jüdischen Lehrer (um 761 n. Chr.), ausging und durch ihre liberalere Auffassung der Dogmen mit den Begründern des Kalam, den Mutazila, viel Ähnlichkeit hatte.1 Die Karaim (Karäer oder Karaiten) entlehnten nicht nur die Art ihrer Beweisführung, ja selbst den Namen von den Mutakallimun,2 sondern es gab auch Gelehrte unter ihnen, welche, um die Endlichkeit des Raumes und der Zeit beweisen zu können, die Atomenlehre anerkannten. Während einige sich auf die atomistische Fassung des Raumes beschränkten, übertrugen andere diese Lehre auch auf die Zeit, indem sie den Verlauf derselben nur als ein gleichmäßiges Fortschnellen des Moments in die Vergangen- heit ansahen; andere wieder machten denselben Schluß auch für die Bewegung und "nahmen an, daß die Bewegung nur das Streben eines Atoms zum andren, ohne eigentliche wahre Verschiedenheit (der Geschwindigkeiten) sei, so daß die Be- wegung nicht unendlich teilbar, sondern immer gleich (schnell) ist, und die schnellere oder langsamere Bewegung nur in der ge- ringeren oder größeren Hemmnis durch Pausen uns so erscheint."3 Die jüdischen Schriftgelehrten, welche sich der Atomistik in mehr oder minder ausgeprägter Form zuneigten, hatten auch zwei Bibelstellen aufgefunden, welche sie auf die Lehre von den Atomen deuteten, Spr. 8, 22 und Hiob 28, 12. Diese, wie
1Munk, Melanges etc. p. 470--472.
2Maimonides, More Nevochim I, c. 71. trad. p. Munk p. 336, 337, 346.
3Saadia, Emunot we-Deot oder Glaubenslehre und Philosophie. Nach der Übersetzung von Julius Fürst, Leipzig 1845. 1. Abschnitt c. 6. S. 60. 61.
Atomistik der Karaim.
Fünfter Abschnitt. Jüdische und arabische Philosophen.
1. Die Karaim.
Maßgebenden Einfluß haben Methode und Lehren der Mutakallimun auf die jüdische Sekte der Karaim (Anhänger des Textes) ausgeübt, welche von der babylonischen Akademie durch Anan ben David, einen ihrer vorzüglichsten jüdischen Lehrer (um 761 n. Chr.), ausging und durch ihre liberalere Auffassung der Dogmen mit den Begründern des Kalâm, den Mutazila, viel Ähnlichkeit hatte.1 Die Karaim (Karäer oder Karaiten) entlehnten nicht nur die Art ihrer Beweisführung, ja selbst den Namen von den Mutakallimun,2 sondern es gab auch Gelehrte unter ihnen, welche, um die Endlichkeit des Raumes und der Zeit beweisen zu können, die Atomenlehre anerkannten. Während einige sich auf die atomistische Fassung des Raumes beschränkten, übertrugen andere diese Lehre auch auf die Zeit, indem sie den Verlauf derselben nur als ein gleichmäßiges Fortschnellen des Moments in die Vergangen- heit ansahen; andere wieder machten denselben Schluß auch für die Bewegung und „nahmen an, daß die Bewegung nur das Streben eines Atoms zum andren, ohne eigentliche wahre Verschiedenheit (der Geschwindigkeiten) sei, so daß die Be- wegung nicht unendlich teilbar, sondern immer gleich (schnell) ist, und die schnellere oder langsamere Bewegung nur in der ge- ringeren oder größeren Hemmnis durch Pausen uns so erscheint.‟3 Die jüdischen Schriftgelehrten, welche sich der Atomistik in mehr oder minder ausgeprägter Form zuneigten, hatten auch zwei Bibelstellen aufgefunden, welche sie auf die Lehre von den Atomen deuteten, Spr. 8, 22 und Hiob 28, 12. Diese, wie
1Munk, Mélanges etc. p. 470—472.
2Maimonides, More Nevochim I, c. 71. trad. p. Munk p. 336, 337, 346.
3Saadia, Emunot we-Dëot oder Glaubenslehre und Philosophie. Nach der Übersetzung von Julius Fürst, Leipzig 1845. 1. Abschnitt c. 6. S. 60. 61.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0169"n="151"/><fwplace="top"type="header">Atomistik der Karaim.</fw><lb/><divn="2"><head>Fünfter Abschnitt.<lb/>
Jüdische und arabische Philosophen.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">1. Die Karaim.</hi></head><lb/><p>Maßgebenden Einfluß haben Methode und Lehren der<lb/>
Mutakallimun auf die jüdische Sekte der Karaim (Anhänger<lb/>
des Textes) ausgeübt, welche von der babylonischen Akademie<lb/>
durch <hirendition="#k">Anan ben David</hi>, einen ihrer vorzüglichsten jüdischen<lb/>
Lehrer (um 761 n. Chr.), ausging und durch ihre liberalere<lb/>
Auffassung der Dogmen mit den Begründern des Kalâm, den<lb/>
Mutazila, viel Ähnlichkeit hatte.<noteplace="foot"n="1"><hirendition="#k">Munk</hi>, <hirendition="#i">Mélanges</hi> etc. p. 470—472.</note> Die Karaim (Karäer oder<lb/>
Karaiten) entlehnten nicht nur die Art ihrer Beweisführung,<lb/>
ja selbst den Namen von den Mutakallimun,<noteplace="foot"n="2"><hirendition="#k">Maimonides</hi>, <hirendition="#i">More Nevochim</hi> I, c. 71. trad. p. <hirendition="#k">Munk</hi> p. 336, 337, 346.</note> sondern es gab<lb/>
auch Gelehrte unter ihnen, welche, um die Endlichkeit des<lb/>
Raumes und der Zeit beweisen zu können, die Atomenlehre<lb/>
anerkannten. Während einige sich auf die atomistische Fassung<lb/>
des Raumes beschränkten, übertrugen andere diese Lehre auch<lb/>
auf die Zeit, indem sie den Verlauf derselben nur als ein<lb/>
gleichmäßiges Fortschnellen des Moments in die Vergangen-<lb/>
heit ansahen; andere wieder machten denselben Schluß auch<lb/>
für die Bewegung und „nahmen an, daß die Bewegung nur<lb/>
das Streben eines Atoms zum andren, ohne eigentliche wahre<lb/>
Verschiedenheit (der Geschwindigkeiten) sei, so daß die Be-<lb/>
wegung nicht unendlich teilbar, sondern immer gleich (schnell)<lb/>
ist, und die schnellere oder langsamere Bewegung nur in der ge-<lb/>
ringeren oder größeren Hemmnis durch Pausen uns so erscheint.‟<noteplace="foot"n="3"><hirendition="#k">Saadia</hi>, <hirendition="#i">Emunot we-Dëot oder Glaubenslehre und Philosophie.</hi> Nach der<lb/>
Übersetzung von <hirendition="#k">Julius Fürst</hi>, Leipzig 1845. 1. Abschnitt c. 6. S. 60. 61.</note><lb/>
Die jüdischen Schriftgelehrten, welche sich der Atomistik in<lb/>
mehr oder minder ausgeprägter Form zuneigten, hatten auch<lb/>
zwei Bibelstellen aufgefunden, welche sie auf die Lehre von<lb/>
den Atomen deuteten, Spr. 8, 22 und Hiob 28, 12. Diese, wie<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[151/0169]
Atomistik der Karaim.
Fünfter Abschnitt.
Jüdische und arabische Philosophen.
1. Die Karaim.
Maßgebenden Einfluß haben Methode und Lehren der
Mutakallimun auf die jüdische Sekte der Karaim (Anhänger
des Textes) ausgeübt, welche von der babylonischen Akademie
durch Anan ben David, einen ihrer vorzüglichsten jüdischen
Lehrer (um 761 n. Chr.), ausging und durch ihre liberalere
Auffassung der Dogmen mit den Begründern des Kalâm, den
Mutazila, viel Ähnlichkeit hatte. 1 Die Karaim (Karäer oder
Karaiten) entlehnten nicht nur die Art ihrer Beweisführung,
ja selbst den Namen von den Mutakallimun, 2 sondern es gab
auch Gelehrte unter ihnen, welche, um die Endlichkeit des
Raumes und der Zeit beweisen zu können, die Atomenlehre
anerkannten. Während einige sich auf die atomistische Fassung
des Raumes beschränkten, übertrugen andere diese Lehre auch
auf die Zeit, indem sie den Verlauf derselben nur als ein
gleichmäßiges Fortschnellen des Moments in die Vergangen-
heit ansahen; andere wieder machten denselben Schluß auch
für die Bewegung und „nahmen an, daß die Bewegung nur
das Streben eines Atoms zum andren, ohne eigentliche wahre
Verschiedenheit (der Geschwindigkeiten) sei, so daß die Be-
wegung nicht unendlich teilbar, sondern immer gleich (schnell)
ist, und die schnellere oder langsamere Bewegung nur in der ge-
ringeren oder größeren Hemmnis durch Pausen uns so erscheint.‟ 3
Die jüdischen Schriftgelehrten, welche sich der Atomistik in
mehr oder minder ausgeprägter Form zuneigten, hatten auch
zwei Bibelstellen aufgefunden, welche sie auf die Lehre von
den Atomen deuteten, Spr. 8, 22 und Hiob 28, 12. Diese, wie
1 Munk, Mélanges etc. p. 470—472.
2 Maimonides, More Nevochim I, c. 71. trad. p. Munk p. 336, 337, 346.
3 Saadia, Emunot we-Dëot oder Glaubenslehre und Philosophie. Nach der
Übersetzung von Julius Fürst, Leipzig 1845. 1. Abschnitt c. 6. S. 60. 61.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/169>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.