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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Einleitung: Die Theorien der Materie.
Bemühen stößt indessen auf außerordentliche Schwierigkeiten,
eben wegen jener engen Verquickung derselben mit allge-
meineren Problemen, von welchen sie nicht lösbar sind. Man
könnte versuchen, die übermächtige Mannigfaltigkeit der ver-
schiedenen Lehren vom Wesen der Körperwelt nach ihrem
Inhalte zu ordnen und unter Berücksichtigung der zu Grunde
gelegten materiellen Prinzipien in Gruppen zu bringen. Da-
durch entstehen Einteilungen wie die in atomistische und
plerotische, in kinetische und dynamische Theorien, je nach-
dem man einen in individuellen Teilen oder im Kontinuum er-
füllten Raum voraussetzt, oder Annahmen über die Wechsel-
wirkung der erfüllten Raumteile bildet. Aber auf diesem
Wege lassen sich weder die geschichtlich vorhandenen Stufen
in allen ihren Schattierungen erschöpfen, noch gelingt es, die
grundsätzlich verschiedenen Lehren durchweg genügend zu
trennen. Wohin wären die unteilbaren Flächenelemente eines
Platon, wohin die Monaden eines Leibniz zu rechnen? Gehören
sie zur Atomistik, oder wo liegen die Grenzen der letzteren?
Hat nur die materialistische Individualisierung des Raumes
durch Demokrit das Recht auf diesen Namen? Bedingen nicht
die dynamisch wirkenden, intensiven Punkte oder Kraftzentren
neuerer Physiker auch eine Atomistik? Die antike Atomistik
ist konsequenter Materialismus, die moderne, sei sie dynamisch
oder kinetisch, will mit metaphysischen Behauptungen nichts
zu thun haben. Während die materialistische Atomistik zum
Atheismus führt, finden wir bei den Mutakallimun, einer ortho-
doxen Sekte des Islam, eine streng ausgebildete Atomistik, zu
dem Zwecke, die natürliche Kausalität zum besten der Willkür
Gottes aufzuheben, und der eifrige Katholik und fromme Dom-
herr Gassendi weiß die Atomenlehre mit dem Dogma der
Kirche zu vereinen. Die beiden mächtigsten Beherrscher der
Philosophie, Aristoteles und Kant, lehren beide die konti-
nuierliche Erfüllung des Raumes; darf man deshalb ihre Namen
als Anhänger der plerotischen Theorie zusammenstellen? Es
ist offenbar, daß bei der Begründung der Lehren von der Materie
Einflüsse eine Rolle spielen, welche durch den rein theoretischen
Inhalt derselben nicht ausreichend begründet werden können.
Wir müssen uns daher nach einem anderen Einteilungsprinzip
umsehen.

Einleitung: Die Theorien der Materie.
Bemühen stößt indessen auf außerordentliche Schwierigkeiten,
eben wegen jener engen Verquickung derselben mit allge-
meineren Problemen, von welchen sie nicht lösbar sind. Man
könnte versuchen, die übermächtige Mannigfaltigkeit der ver-
schiedenen Lehren vom Wesen der Körperwelt nach ihrem
Inhalte zu ordnen und unter Berücksichtigung der zu Grunde
gelegten materiellen Prinzipien in Gruppen zu bringen. Da-
durch entstehen Einteilungen wie die in atomistische und
plerotische, in kinetische und dynamische Theorien, je nach-
dem man einen in individuellen Teilen oder im Kontinuum er-
füllten Raum voraussetzt, oder Annahmen über die Wechsel-
wirkung der erfüllten Raumteile bildet. Aber auf diesem
Wege lassen sich weder die geschichtlich vorhandenen Stufen
in allen ihren Schattierungen erschöpfen, noch gelingt es, die
grundsätzlich verschiedenen Lehren durchweg genügend zu
trennen. Wohin wären die unteilbaren Flächenelemente eines
Platon, wohin die Monaden eines Leibniz zu rechnen? Gehören
sie zur Atomistik, oder wo liegen die Grenzen der letzteren?
Hat nur die materialistische Individualisierung des Raumes
durch Demokrit das Recht auf diesen Namen? Bedingen nicht
die dynamisch wirkenden, intensiven Punkte oder Kraftzentren
neuerer Physiker auch eine Atomistik? Die antike Atomistik
ist konsequenter Materialismus, die moderne, sei sie dynamisch
oder kinetisch, will mit metaphysischen Behauptungen nichts
zu thun haben. Während die materialistische Atomistik zum
Atheismus führt, finden wir bei den Mutakallimun, einer ortho-
doxen Sekte des Islam, eine streng ausgebildete Atomistik, zu
dem Zwecke, die natürliche Kausalität zum besten der Willkür
Gottes aufzuheben, und der eifrige Katholik und fromme Dom-
herr Gassendi weiß die Atomenlehre mit dem Dogma der
Kirche zu vereinen. Die beiden mächtigsten Beherrscher der
Philosophie, Aristoteles und Kant, lehren beide die konti-
nuierliche Erfüllung des Raumes; darf man deshalb ihre Namen
als Anhänger der plerotischen Theorie zusammenstellen? Es
ist offenbar, daß bei der Begründung der Lehren von der Materie
Einflüsse eine Rolle spielen, welche durch den rein theoretischen
Inhalt derselben nicht ausreichend begründet werden können.
Wir müssen uns daher nach einem anderen Einteilungsprinzip
umsehen.

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[2/0020] Einleitung: Die Theorien der Materie. Bemühen stößt indessen auf außerordentliche Schwierigkeiten, eben wegen jener engen Verquickung derselben mit allge- meineren Problemen, von welchen sie nicht lösbar sind. Man könnte versuchen, die übermächtige Mannigfaltigkeit der ver- schiedenen Lehren vom Wesen der Körperwelt nach ihrem Inhalte zu ordnen und unter Berücksichtigung der zu Grunde gelegten materiellen Prinzipien in Gruppen zu bringen. Da- durch entstehen Einteilungen wie die in atomistische und plerotische, in kinetische und dynamische Theorien, je nach- dem man einen in individuellen Teilen oder im Kontinuum er- füllten Raum voraussetzt, oder Annahmen über die Wechsel- wirkung der erfüllten Raumteile bildet. Aber auf diesem Wege lassen sich weder die geschichtlich vorhandenen Stufen in allen ihren Schattierungen erschöpfen, noch gelingt es, die grundsätzlich verschiedenen Lehren durchweg genügend zu trennen. Wohin wären die unteilbaren Flächenelemente eines Platon, wohin die Monaden eines Leibniz zu rechnen? Gehören sie zur Atomistik, oder wo liegen die Grenzen der letzteren? Hat nur die materialistische Individualisierung des Raumes durch Demokrit das Recht auf diesen Namen? Bedingen nicht die dynamisch wirkenden, intensiven Punkte oder Kraftzentren neuerer Physiker auch eine Atomistik? Die antike Atomistik ist konsequenter Materialismus, die moderne, sei sie dynamisch oder kinetisch, will mit metaphysischen Behauptungen nichts zu thun haben. Während die materialistische Atomistik zum Atheismus führt, finden wir bei den Mutakallimun, einer ortho- doxen Sekte des Islam, eine streng ausgebildete Atomistik, zu dem Zwecke, die natürliche Kausalität zum besten der Willkür Gottes aufzuheben, und der eifrige Katholik und fromme Dom- herr Gassendi weiß die Atomenlehre mit dem Dogma der Kirche zu vereinen. Die beiden mächtigsten Beherrscher der Philosophie, Aristoteles und Kant, lehren beide die konti- nuierliche Erfüllung des Raumes; darf man deshalb ihre Namen als Anhänger der plerotischen Theorie zusammenstellen? Es ist offenbar, daß bei der Begründung der Lehren von der Materie Einflüsse eine Rolle spielen, welche durch den rein theoretischen Inhalt derselben nicht ausreichend begründet werden können. Wir müssen uns daher nach einem anderen Einteilungsprinzip umsehen.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/20>, abgerufen am 23.11.2024.