er die Ansichten Demokrits und Epikurs vom gegenseitigen Stoße der unveränderlichen (#) Atome und gibt an, daß letztere nach Epikur ihrer Härte, nach Leukipp ihrer Kleinheit wegen unteilbar seien.
Wenn man aber unveränderliche und noch dazu empfin- dungslose Atome annehme, so könne man die unbestreitbare Thatsache, daß der Mensch erkranke und Schmerzen leide, nicht erklären. Denn das Erleiden von Schmerz erfordere zwei Bedingungen, Veränderung (#) und Empfindung (#). Wenn man z. B. jemand in die Haut sticht, so kann ent- weder der Fall eintreten, daß nur ein Atom, oder der, daß zwei und mehrere getroffen werden. Wird nur ein Atom berührt, so ist dies ja unveränderlich (#) und kann also doch keinen Schmerz erleiden; dasselbe aber gilt von den mehreren Atomen. Denn aus Unveränderlichem und Empfindungslosem kann nicht etwas entstehen, das der Veränderung und Empfin- dung fähig wäre; wenn der einzelne Diamant nichts fühlt, so wird auch der Haufen von Diamanten nichts fühlen.1 Bloße Zusammensetzung kann ebensowenig etwas Neues ergeben wie bloße Teilung; Schnee bleibt Schnee, wenn nur die Teilchen getrennt werden. Erst Erwärmung verwandelt ihn.2 Aber selbst, wenn man mit Empfindung begabte Atome annähme, würde dies nichts helfen. Denn so wenig man Schmerz em- pfindet, wenn man zwei Finger, die doch für sich Empfindung haben, auseinanderbreitet, ebensowenig können zwei Atome Schmerz empfinden, wenn man sie voneinander trennt. Wie viel weniger also könnte der Mensch Schmerz empfinden, wenn er aus empfindungslosen Atomen bestände, da selbst die Annahme empfindender Atome zur Erklärung nicht aus- reicht.3
Die unklare Vorstellung von den Bedingungen und dem Umfange der Empfindung, resp. des Bewußtseins, ermöglichte diesen Vergleich, welcher einem oberflächlichen Denken gegen- über allerdings viel Verlockendes haben mochte und zur raschen Niederschlagung vorwitziger Schülerfragen dienen
1De elem. I, p. 422. De constit. artis med. I. p. 245 ff.
2De constit. artis med., I. p. 252.
3De elem. I p. 423. 431.
Galen gegen die Atomistik. Empfindung.
er die Ansichten Demokrits und Epikurs vom gegenseitigen Stoße der unveränderlichen (#) Atome und gibt an, daß letztere nach Epikur ihrer Härte, nach Leukipp ihrer Kleinheit wegen unteilbar seien.
Wenn man aber unveränderliche und noch dazu empfin- dungslose Atome annehme, so könne man die unbestreitbare Thatsache, daß der Mensch erkranke und Schmerzen leide, nicht erklären. Denn das Erleiden von Schmerz erfordere zwei Bedingungen, Veränderung (#) und Empfindung (#). Wenn man z. B. jemand in die Haut sticht, so kann ent- weder der Fall eintreten, daß nur ein Atom, oder der, daß zwei und mehrere getroffen werden. Wird nur ein Atom berührt, so ist dies ja unveränderlich (#) und kann also doch keinen Schmerz erleiden; dasselbe aber gilt von den mehreren Atomen. Denn aus Unveränderlichem und Empfindungslosem kann nicht etwas entstehen, das der Veränderung und Empfin- dung fähig wäre; wenn der einzelne Diamant nichts fühlt, so wird auch der Haufen von Diamanten nichts fühlen.1 Bloße Zusammensetzung kann ebensowenig etwas Neues ergeben wie bloße Teilung; Schnee bleibt Schnee, wenn nur die Teilchen getrennt werden. Erst Erwärmung verwandelt ihn.2 Aber selbst, wenn man mit Empfindung begabte Atome annähme, würde dies nichts helfen. Denn so wenig man Schmerz em- pfindet, wenn man zwei Finger, die doch für sich Empfindung haben, auseinanderbreitet, ebensowenig können zwei Atome Schmerz empfinden, wenn man sie voneinander trennt. Wie viel weniger also könnte der Mensch Schmerz empfinden, wenn er aus empfindungslosen Atomen bestände, da selbst die Annahme empfindender Atome zur Erklärung nicht aus- reicht.3
Die unklare Vorstellung von den Bedingungen und dem Umfange der Empfindung, resp. des Bewußtseins, ermöglichte diesen Vergleich, welcher einem oberflächlichen Denken gegen- über allerdings viel Verlockendes haben mochte und zur raschen Niederschlagung vorwitziger Schülerfragen dienen
1De elem. I, p. 422. De constit. artis med. I. p. 245 ff.
2De constit. artis med., I. p. 252.
3De elem. I p. 423. 431.
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Galen gegen die Atomistik. Empfindung.
er die Ansichten Demokrits und Epikurs vom gegenseitigen
Stoße der unveränderlichen (#) Atome und gibt an, daß
letztere nach Epikur ihrer Härte, nach Leukipp ihrer Kleinheit
wegen unteilbar seien.
Wenn man aber unveränderliche und noch dazu empfin-
dungslose Atome annehme, so könne man die unbestreitbare
Thatsache, daß der Mensch erkranke und Schmerzen leide,
nicht erklären. Denn das Erleiden von Schmerz erfordere zwei
Bedingungen, Veränderung (#) und Empfindung (#).
Wenn man z. B. jemand in die Haut sticht, so kann ent-
weder der Fall eintreten, daß nur ein Atom, oder der, daß zwei
und mehrere getroffen werden. Wird nur ein Atom berührt,
so ist dies ja unveränderlich (#) und kann also doch
keinen Schmerz erleiden; dasselbe aber gilt von den mehreren
Atomen. Denn aus Unveränderlichem und Empfindungslosem
kann nicht etwas entstehen, das der Veränderung und Empfin-
dung fähig wäre; wenn der einzelne Diamant nichts fühlt, so
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Zusammensetzung kann ebensowenig etwas Neues ergeben wie
bloße Teilung; Schnee bleibt Schnee, wenn nur die Teilchen
getrennt werden. Erst Erwärmung verwandelt ihn. 2 Aber
selbst, wenn man mit Empfindung begabte Atome annähme,
würde dies nichts helfen. Denn so wenig man Schmerz em-
pfindet, wenn man zwei Finger, die doch für sich Empfindung
haben, auseinanderbreitet, ebensowenig können zwei Atome
Schmerz empfinden, wenn man sie voneinander trennt. Wie
viel weniger also könnte der Mensch Schmerz empfinden,
wenn er aus empfindungslosen Atomen bestände, da selbst
die Annahme empfindender Atome zur Erklärung nicht aus-
reicht. 3
Die unklare Vorstellung von den Bedingungen und dem
Umfange der Empfindung, resp. des Bewußtseins, ermöglichte
diesen Vergleich, welcher einem oberflächlichen Denken gegen-
über allerdings viel Verlockendes haben mochte und zur
raschen Niederschlagung vorwitziger Schülerfragen dienen
1 De elem. I, p. 422. De constit. artis med. I. p. 245 ff.
2 De constit. artis med., I. p. 252.
3 De elem. I p. 423. 431.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/250>, abgerufen am 24.11.2024.
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