Es kann nämlich nicht nur eine Figur einer andren nie gleichgemacht werden, sondern sogar ein und dieselbe Figur kann nicht zweimal auf dieselbe Weise konstruiert, kann nicht in gleicher Weise wiederholt werden. Denn erstens gibt es überhaupt in der Natur nirgends zwei gleiche Dinge oder gleiche Teile; wenn auch die Größe des Minimums immer die- selbe ist, so müssen doch zur Ordnung der einzelnen Arten und Individuen soviel verschiedene Minima angenommen werden, als es Arten gibt, die hervorzubringen sind. Eine Spezies ist dann der Anfang der andren, sowie von der Spezies des Em- bryo zur Spezies des Tieres oder des Menschen es einen Fort- schritt ohne Auflösung gibt.1 Die Verschiedenheit der Teile selbst verhindert also schon eine völlige Gleichheit der Körper oder Figuren. Zweitens aber gibt es in der Natur keine Ruhe und kein Verharren. Alles ist in einer fortwährenden Bewe- gung, Veränderung, Zersetzung und Neubildung begriffen. Wie die Wellen eines Stromes, wie die Flammen des Lichtes bleibt nichts dasselbe, was es im Momente vorher war, sondern alles fließt in ewigem Wechsel. Alle Teile der Dinge ändern sich fortwährend durch das unablässige Ein- und Ausströmen un- zähliger Atome.2
Daraus folgt nicht allein, daß es nicht zwei gleiche Figuren in der Natur geben kann, sondern daß es überhaupt keine genaue mathematische Figur gibt. Ein endlicher Kreis existiert nicht in der Natur, und der sinnlich wahrge- nommene Kreis ist in Wirklichkeit kein Kreis.3 Regelmäßig- keit ist wie die absolute Gleichheit niemals und nirgends vor- handen. So ist es auch in der That nicht möglich, eine Linie genau in zwei gleiche Teile zu teilen, und wenn man die Tei- lung wiederholt vollzieht, so wird man doch immer wieder auf ein andres Atom treffen.
Daß man zwischen den einzelnen Teilen der Figuren ge- rade Linien ziehen könne, ist ebenfalls ein Schein und nur für die sinnliche Wahrnehmung giltig. In Wirklichkeit sind solche Linien dort allein vorhanden, wo eine unmittelbare Be-
1De min. II, 5. Schol. p. 71.
2De min. I, 4. II, 4. p. 61. Schol. p. 65.
3De min. II, 4. p. 61. I, 2. p. 56.
G. Bruno: Ungenauigkeit der math. Figuren.
Es kann nämlich nicht nur eine Figur einer andren nie gleichgemacht werden, sondern sogar ein und dieselbe Figur kann nicht zweimal auf dieselbe Weise konstruiert, kann nicht in gleicher Weise wiederholt werden. Denn erstens gibt es überhaupt in der Natur nirgends zwei gleiche Dinge oder gleiche Teile; wenn auch die Größe des Minimums immer die- selbe ist, so müssen doch zur Ordnung der einzelnen Arten und Individuen soviel verschiedene Minima angenommen werden, als es Arten gibt, die hervorzubringen sind. Eine Spezies ist dann der Anfang der andren, sowie von der Spezies des Em- bryo zur Spezies des Tieres oder des Menschen es einen Fort- schritt ohne Auflösung gibt.1 Die Verschiedenheit der Teile selbst verhindert also schon eine völlige Gleichheit der Körper oder Figuren. Zweitens aber gibt es in der Natur keine Ruhe und kein Verharren. Alles ist in einer fortwährenden Bewe- gung, Veränderung, Zersetzung und Neubildung begriffen. Wie die Wellen eines Stromes, wie die Flammen des Lichtes bleibt nichts dasselbe, was es im Momente vorher war, sondern alles fließt in ewigem Wechsel. Alle Teile der Dinge ändern sich fortwährend durch das unablässige Ein- und Ausströmen un- zähliger Atome.2
Daraus folgt nicht allein, daß es nicht zwei gleiche Figuren in der Natur geben kann, sondern daß es überhaupt keine genaue mathematische Figur gibt. Ein endlicher Kreis existiert nicht in der Natur, und der sinnlich wahrge- nommene Kreis ist in Wirklichkeit kein Kreis.3 Regelmäßig- keit ist wie die absolute Gleichheit niemals und nirgends vor- handen. So ist es auch in der That nicht möglich, eine Linie genau in zwei gleiche Teile zu teilen, und wenn man die Tei- lung wiederholt vollzieht, so wird man doch immer wieder auf ein andres Atom treffen.
Daß man zwischen den einzelnen Teilen der Figuren ge- rade Linien ziehen könne, ist ebenfalls ein Schein und nur für die sinnliche Wahrnehmung giltig. In Wirklichkeit sind solche Linien dort allein vorhanden, wo eine unmittelbare Be-
1De min. II, 5. Schol. p. 71.
2De min. I, 4. II, 4. p. 61. Schol. p. 65.
3De min. II, 4. p. 61. I, 2. p. 56.
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G. Bruno: Ungenauigkeit der math. Figuren.
Es kann nämlich nicht nur eine Figur einer andren nie
gleichgemacht werden, sondern sogar ein und dieselbe Figur
kann nicht zweimal auf dieselbe Weise konstruiert, kann nicht
in gleicher Weise wiederholt werden. Denn erstens gibt es
überhaupt in der Natur nirgends zwei gleiche Dinge oder
gleiche Teile; wenn auch die Größe des Minimums immer die-
selbe ist, so müssen doch zur Ordnung der einzelnen Arten
und Individuen soviel verschiedene Minima angenommen werden,
als es Arten gibt, die hervorzubringen sind. Eine Spezies ist
dann der Anfang der andren, sowie von der Spezies des Em-
bryo zur Spezies des Tieres oder des Menschen es einen Fort-
schritt ohne Auflösung gibt. 1 Die Verschiedenheit der Teile
selbst verhindert also schon eine völlige Gleichheit der Körper
oder Figuren. Zweitens aber gibt es in der Natur keine Ruhe
und kein Verharren. Alles ist in einer fortwährenden Bewe-
gung, Veränderung, Zersetzung und Neubildung begriffen. Wie
die Wellen eines Stromes, wie die Flammen des Lichtes bleibt
nichts dasselbe, was es im Momente vorher war, sondern alles
fließt in ewigem Wechsel. Alle Teile der Dinge ändern sich
fortwährend durch das unablässige Ein- und Ausströmen un-
zähliger Atome. 2
Daraus folgt nicht allein, daß es nicht zwei gleiche Figuren
in der Natur geben kann, sondern daß es überhaupt keine
genaue mathematische Figur gibt. Ein endlicher
Kreis existiert nicht in der Natur, und der sinnlich wahrge-
nommene Kreis ist in Wirklichkeit kein Kreis. 3 Regelmäßig-
keit ist wie die absolute Gleichheit niemals und nirgends vor-
handen. So ist es auch in der That nicht möglich, eine Linie
genau in zwei gleiche Teile zu teilen, und wenn man die Tei-
lung wiederholt vollzieht, so wird man doch immer wieder auf
ein andres Atom treffen.
Daß man zwischen den einzelnen Teilen der Figuren ge-
rade Linien ziehen könne, ist ebenfalls ein Schein und nur
für die sinnliche Wahrnehmung giltig. In Wirklichkeit sind
solche Linien dort allein vorhanden, wo eine unmittelbare Be-
1 De min. II, 5. Schol. p. 71.
2 De min. I, 4. II, 4. p. 61. Schol. p. 65.
3 De min. II, 4. p. 61. I, 2. p. 56.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/393>, abgerufen am 25.11.2024.
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