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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Berigard: Entstehen und Vergehen.
Aristoteles und die Anhängerschaft an eine korpuskulare
Theorie tritt unverkennbar als Standpunkt Berigards hervor.
Seine Meinung läßt sich dahin skizzieren, daß er die Annahme
des Anaxagoras von unendlich vielen qualitativ verschiedenen
Substanzen als Grundlage der Körperwelt billigt und sich einer
atomistischen Fassung dieser Grundsubstanzen zuneigt.

Die Lehre des Aristoteles von den Formen, welche ver-
gänglich sind, wird verworfen. Viel weniger absurd ist es
nach der Meinung der Alten, Zeit und Bewegung nur für das
Denken von den Dingen zu unterscheiden und kein andres
Geschehen zuzugeben als durch Ansammlung und Abtrennung
von körperlichen Substanzen; alles ist ewig, nichts im eigent-
lichen Sinne entstanden oder vergangen, sondern nur in der
örtlichen Lage verändert.1 Alle Veränderungen beruhen ledig-
lich auf räumlicher Bewegung. Beim Entstehen bewegt sich
diejenige Substanz entweder im hinzutretenden oder im ent-
gegengesetzten Sinne, welche das Wesen des betreffenden
Körpers ausmacht;2 Entstehen (generatio) findet statt, wenn
durch das Zusammentreten der einfachen Substanzen die Eigen-
schaften eines Naturkörpers der Spezies nach bestimmt wer-
den; das Gegenteil heißt Vergehen (corruptio); Änderung
(alteratio) dagegen findet dann statt, wenn durch die Bewegung
der Substanzen die Eigenschaften des Körpers nicht so stark
verändert werden, daß die Spezies eine andre wird.3 Die gegen-
seitige Einwirkung der Substanzen wird vermittelt durch die
PoRen. Alle Körper enthalten Poren, wenn sie auch bei
vielen, wie z. B. beim Golde, nicht sichtbar sind. In diese
Poren (meatus) dringen die feineren Substanzen ein -- mag
man dieselben nun qualitates corporatae oder sonstwie nennen --
und verweilen daselbst je nach Gunst und Zahl der ihnen zur
Verfügung stehenden Räumlichkeiten, bis sie entweder von
andern Eindringlingen vertrieben oder durch eigene Kraft
vorwärtsbewegt werden. Jene Poren sind nämlich niemals
leer, wie Demokrit meinte, sondern immer angefüllt mit einem
feinen Körper.4

1 Circ. Pis. in priores libr. Phys. Arist. Circ. VII. De infinito p. 47.
2 Circ. Pis. in Ar. lib. de Ortu et interitu. Circ. II p. 4. Generatio est
motus substantiae essentialis advenientis vel abeuntis.
3 A. a. O. p. 6.
4 A. a. O. p. 17.

Berigard: Entstehen und Vergehen.
Aristoteles und die Anhängerschaft an eine korpuskulare
Theorie tritt unverkennbar als Standpunkt Berigards hervor.
Seine Meinung läßt sich dahin skizzieren, daß er die Annahme
des Anaxagoras von unendlich vielen qualitativ verschiedenen
Substanzen als Grundlage der Körperwelt billigt und sich einer
atomistischen Fassung dieser Grundsubstanzen zuneigt.

Die Lehre des Aristoteles von den Formen, welche ver-
gänglich sind, wird verworfen. Viel weniger absurd ist es
nach der Meinung der Alten, Zeit und Bewegung nur für das
Denken von den Dingen zu unterscheiden und kein andres
Geschehen zuzugeben als durch Ansammlung und Abtrennung
von körperlichen Substanzen; alles ist ewig, nichts im eigent-
lichen Sinne entstanden oder vergangen, sondern nur in der
örtlichen Lage verändert.1 Alle Veränderungen beruhen ledig-
lich auf räumlicher Bewegung. Beim Entstehen bewegt sich
diejenige Substanz entweder im hinzutretenden oder im ent-
gegengesetzten Sinne, welche das Wesen des betreffenden
Körpers ausmacht;2 Entstehen (generatio) findet statt, wenn
durch das Zusammentreten der einfachen Substanzen die Eigen-
schaften eines Naturkörpers der Spezies nach bestimmt wer-
den; das Gegenteil heißt Vergehen (corruptio); Änderung
(alteratio) dagegen findet dann statt, wenn durch die Bewegung
der Substanzen die Eigenschaften des Körpers nicht so stark
verändert werden, daß die Spezies eine andre wird.3 Die gegen-
seitige Einwirkung der Substanzen wird vermittelt durch die
Poɹen. Alle Körper enthalten Poren, wenn sie auch bei
vielen, wie z. B. beim Golde, nicht sichtbar sind. In diese
Poren (meatus) dringen die feineren Substanzen ein — mag
man dieselben nun qualitates corporatae oder sonstwie nennen —
und verweilen daselbst je nach Gunst und Zahl der ihnen zur
Verfügung stehenden Räumlichkeiten, bis sie entweder von
andern Eindringlingen vertrieben oder durch eigene Kraft
vorwärtsbewegt werden. Jene Poren sind nämlich niemals
leer, wie Demokrit meinte, sondern immer angefüllt mit einem
feinen Körper.4

1 Circ. Pis. in priores libr. Phys. Arist. Circ. VII. De infinito p. 47.
2 Circ. Pis. in Ar. lib. de Ortu et interitu. Circ. II p. 4. Generatio est
motus substantiae essentialis advenientis vel abeuntis.
3 A. a. O. p. 6.
4 A. a. O. p. 17.
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[490/0508] Berigard: Entstehen und Vergehen. Aristoteles und die Anhängerschaft an eine korpuskulare Theorie tritt unverkennbar als Standpunkt Berigards hervor. Seine Meinung läßt sich dahin skizzieren, daß er die Annahme des Anaxagoras von unendlich vielen qualitativ verschiedenen Substanzen als Grundlage der Körperwelt billigt und sich einer atomistischen Fassung dieser Grundsubstanzen zuneigt. Die Lehre des Aristoteles von den Formen, welche ver- gänglich sind, wird verworfen. Viel weniger absurd ist es nach der Meinung der Alten, Zeit und Bewegung nur für das Denken von den Dingen zu unterscheiden und kein andres Geschehen zuzugeben als durch Ansammlung und Abtrennung von körperlichen Substanzen; alles ist ewig, nichts im eigent- lichen Sinne entstanden oder vergangen, sondern nur in der örtlichen Lage verändert. 1 Alle Veränderungen beruhen ledig- lich auf räumlicher Bewegung. Beim Entstehen bewegt sich diejenige Substanz entweder im hinzutretenden oder im ent- gegengesetzten Sinne, welche das Wesen des betreffenden Körpers ausmacht; 2 Entstehen (generatio) findet statt, wenn durch das Zusammentreten der einfachen Substanzen die Eigen- schaften eines Naturkörpers der Spezies nach bestimmt wer- den; das Gegenteil heißt Vergehen (corruptio); Änderung (alteratio) dagegen findet dann statt, wenn durch die Bewegung der Substanzen die Eigenschaften des Körpers nicht so stark verändert werden, daß die Spezies eine andre wird. 3 Die gegen- seitige Einwirkung der Substanzen wird vermittelt durch die Poɹen. Alle Körper enthalten Poren, wenn sie auch bei vielen, wie z. B. beim Golde, nicht sichtbar sind. In diese Poren (meatus) dringen die feineren Substanzen ein — mag man dieselben nun qualitates corporatae oder sonstwie nennen — und verweilen daselbst je nach Gunst und Zahl der ihnen zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten, bis sie entweder von andern Eindringlingen vertrieben oder durch eigene Kraft vorwärtsbewegt werden. Jene Poren sind nämlich niemals leer, wie Demokrit meinte, sondern immer angefüllt mit einem feinen Körper. 4 1 Circ. Pis. in priores libr. Phys. Arist. Circ. VII. De infinito p. 47. 2 Circ. Pis. in Ar. lib. de Ortu et interitu. Circ. II p. 4. Generatio est motus substantiae essentialis advenientis vel abeuntis. 3 A. a. O. p. 6. 4 A. a. O. p. 17.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/508>, abgerufen am 27.11.2024.