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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Beschränkung Platons.
stimmenden entsteht die dritte Gattung des Seienden, nämlich
die Sinnendinge, insofern sie zweckmäßig, nach Maßbestim-
mungen eingerichtet sind. In den Künsten, insbesondere in
der Musik, hatte sich gezeigt, wie aller Bestand der Schönheit
und Harmonie auf Zahl- und Maßverhältnisse gegründet ist.
Wie der Künstler die Bedingungen seiner Schöpfung in den
mathematischen Formen findet, so hat auch der Weltschöpfer
durch ein mathematisches Verfahren das Immerseiende des
Mathematischen in die Dinge hineinbilden können. Wir sehen
hier, wie die erste Objektivierung, welche ein bestimmtes Ge-
biet der Sinnesempfindungen durch das europäische Denken
gefunden hat, nämlich die Reihe der Töne in der Akustik,
auch den ersten großen Philosophen auf ein Denkmittel
schließen läßt, das in der begrifflichen Fixierung, in der
mathematischen Erkennbarkeit zugleich die Bedingung des
wirklichen Seins umfaßt. Die Lösbarkeit der Aufgabe der
Philosophie, Grundbedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung
zu ermitteln, werden wir stets gebunden sehen an den Fort-
schritt der Naturwissenschaft, der in der Objektivierung von
Sinnesempfindungen durch mathematische Gesetze besteht.

An die Bestimmung der Dinge durch mathematische For-
men ist gleichzeitig ihre Realität und ihre Erkennbarkeit ge-
knüpft. Dies erkannt zu haben ist Platons unsterbliches Ver-
dienst. Aber hiermit steht er auch zugleich an der Grenze
seiner Macht. Die Schranken, welche die noch in den ersten
Anfängen stehende griechische Wissenschaft dem Genius Platons
auferlegte, ließen ihn daran zweifeln, daß die bunte Fülle der
wechselnden Sinneserscheinungen an die Strenge der mathe-
matischen Begriffe und Formen zur Genüge könne gefesselt
werden, daß die Naturdinge vom Schein zur wissenschaftlichen
Erkenntnis, von der # zur # durch menschlichen
Verstand zu erhöhen seien. Und diese Begrenzung des natur-
wissenschaftlichen Erkennens, welcher Platon in den dichteri-
schen Vermutungen und Hypothesen des Timäus Ausdruck ver-
liehen hat, ist es, die jene früher erwähnte Abwendung von
der Naturforschung in der späteren griechischen Spekulation
und in der ganzen christlichen Welt bestärkte. Nicht jener
Platonische Grundgedanke, welcher -- um modern zu sprechen --
in der Mathematik das Objektivierungsmittel der Sinneserschei-

Beschränkung Platons.
stimmenden entsteht die dritte Gattung des Seienden, nämlich
die Sinnendinge, insofern sie zweckmäßig, nach Maßbestim-
mungen eingerichtet sind. In den Künsten, insbesondere in
der Musik, hatte sich gezeigt, wie aller Bestand der Schönheit
und Harmonie auf Zahl- und Maßverhältnisse gegründet ist.
Wie der Künstler die Bedingungen seiner Schöpfung in den
mathematischen Formen findet, so hat auch der Weltschöpfer
durch ein mathematisches Verfahren das Immerseiende des
Mathematischen in die Dinge hineinbilden können. Wir sehen
hier, wie die erste Objektivierung, welche ein bestimmtes Ge-
biet der Sinnesempfindungen durch das europäische Denken
gefunden hat, nämlich die Reihe der Töne in der Akustik,
auch den ersten großen Philosophen auf ein Denkmittel
schließen läßt, das in der begrifflichen Fixierung, in der
mathematischen Erkennbarkeit zugleich die Bedingung des
wirklichen Seins umfaßt. Die Lösbarkeit der Aufgabe der
Philosophie, Grundbedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung
zu ermitteln, werden wir stets gebunden sehen an den Fort-
schritt der Naturwissenschaft, der in der Objektivierung von
Sinnesempfindungen durch mathematische Gesetze besteht.

An die Bestimmung der Dinge durch mathematische For-
men ist gleichzeitig ihre Realität und ihre Erkennbarkeit ge-
knüpft. Dies erkannt zu haben ist Platons unsterbliches Ver-
dienst. Aber hiermit steht er auch zugleich an der Grenze
seiner Macht. Die Schranken, welche die noch in den ersten
Anfängen stehende griechische Wissenschaft dem Genius Platons
auferlegte, ließen ihn daran zweifeln, daß die bunte Fülle der
wechselnden Sinneserscheinungen an die Strenge der mathe-
matischen Begriffe und Formen zur Genüge könne gefesselt
werden, daß die Naturdinge vom Schein zur wissenschaftlichen
Erkenntnis, von der # zur # durch menschlichen
Verstand zu erhöhen seien. Und diese Begrenzung des natur-
wissenschaftlichen Erkennens, welcher Platon in den dichteri-
schen Vermutungen und Hypothesen des Timäus Ausdruck ver-
liehen hat, ist es, die jene früher erwähnte Abwendung von
der Naturforschung in der späteren griechischen Spekulation
und in der ganzen christlichen Welt bestärkte. Nicht jener
Platonische Grundgedanke, welcher — um modern zu sprechen —
in der Mathematik das Objektivierungsmittel der Sinneserschei-

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[61/0079] Beschränkung Platons. stimmenden entsteht die dritte Gattung des Seienden, nämlich die Sinnendinge, insofern sie zweckmäßig, nach Maßbestim- mungen eingerichtet sind. In den Künsten, insbesondere in der Musik, hatte sich gezeigt, wie aller Bestand der Schönheit und Harmonie auf Zahl- und Maßverhältnisse gegründet ist. Wie der Künstler die Bedingungen seiner Schöpfung in den mathematischen Formen findet, so hat auch der Weltschöpfer durch ein mathematisches Verfahren das Immerseiende des Mathematischen in die Dinge hineinbilden können. Wir sehen hier, wie die erste Objektivierung, welche ein bestimmtes Ge- biet der Sinnesempfindungen durch das europäische Denken gefunden hat, nämlich die Reihe der Töne in der Akustik, auch den ersten großen Philosophen auf ein Denkmittel schließen läßt, das in der begrifflichen Fixierung, in der mathematischen Erkennbarkeit zugleich die Bedingung des wirklichen Seins umfaßt. Die Lösbarkeit der Aufgabe der Philosophie, Grundbedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung zu ermitteln, werden wir stets gebunden sehen an den Fort- schritt der Naturwissenschaft, der in der Objektivierung von Sinnesempfindungen durch mathematische Gesetze besteht. An die Bestimmung der Dinge durch mathematische For- men ist gleichzeitig ihre Realität und ihre Erkennbarkeit ge- knüpft. Dies erkannt zu haben ist Platons unsterbliches Ver- dienst. Aber hiermit steht er auch zugleich an der Grenze seiner Macht. Die Schranken, welche die noch in den ersten Anfängen stehende griechische Wissenschaft dem Genius Platons auferlegte, ließen ihn daran zweifeln, daß die bunte Fülle der wechselnden Sinneserscheinungen an die Strenge der mathe- matischen Begriffe und Formen zur Genüge könne gefesselt werden, daß die Naturdinge vom Schein zur wissenschaftlichen Erkenntnis, von der # zur # durch menschlichen Verstand zu erhöhen seien. Und diese Begrenzung des natur- wissenschaftlichen Erkennens, welcher Platon in den dichteri- schen Vermutungen und Hypothesen des Timäus Ausdruck ver- liehen hat, ist es, die jene früher erwähnte Abwendung von der Naturforschung in der späteren griechischen Spekulation und in der ganzen christlichen Welt bestärkte. Nicht jener Platonische Grundgedanke, welcher — um modern zu sprechen — in der Mathematik das Objektivierungsmittel der Sinneserschei-

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/79>, abgerufen am 21.11.2024.