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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 3. Mannheim, 1837.

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geworfen werde. Wenn die Wache auf dem Kor-
ridor einen unregelmäßigen Schritt macht, so fahr'
ich zusammen, ich denke, man sieht es meiner
Tasche an, daß verbotenes Papier darin steckt, und
es treibt mich ein halber Wahnsinn dem Wärter
zu sagen, wenn er mich ansieht, unaufgefordert zu
sagen: Denken Sie nicht etwa, daß ich hier rechts
in der Tasche Papierstückchen und einen Bleistift
habe! -- So nerven- und geistesschwach wird man;
man weiß es noch eine Zeitlang, man sieht sich
bei lebendigem Leibe sterben. Jch denke an alle die
heruntergekommenen Leute meiner Bekanntschaft, es
fiel Eins nach dem Anderen von ihnen ab, der
Besitz, der Umgang, die Kleidung, sie wollten doch
noch auf Augenblicke leben, sie tranken oder sie stah-
len gar und thaten noch Schlimmeres, und endeten
kläglich, und die Welt höhnte darüber, und ver-
dammte sie rücksichtslos. Jch that es nie, und jetzt
im Elend fühle ich, wie nah bei einander die guten
und die schlechten Thaten ruhn, so nah wie die
glücklichen und unglücklichen Geschicke; ein kleiner
Mangel führt zum nächsten großen, man greift
nach der nächsten Rettung, Geist und Nerve wird

geworfen werde. Wenn die Wache auf dem Kor-
ridor einen unregelmäßigen Schritt macht, ſo fahr’
ich zuſammen, ich denke, man ſieht es meiner
Taſche an, daß verbotenes Papier darin ſteckt, und
es treibt mich ein halber Wahnſinn dem Wärter
zu ſagen, wenn er mich anſieht, unaufgefordert zu
ſagen: Denken Sie nicht etwa, daß ich hier rechts
in der Taſche Papierſtückchen und einen Bleiſtift
habe! — So nerven- und geiſtesſchwach wird man;
man weiß es noch eine Zeitlang, man ſieht ſich
bei lebendigem Leibe ſterben. Jch denke an alle die
heruntergekommenen Leute meiner Bekanntſchaft, es
fiel Eins nach dem Anderen von ihnen ab, der
Beſitz, der Umgang, die Kleidung, ſie wollten doch
noch auf Augenblicke leben, ſie tranken oder ſie ſtah-
len gar und thaten noch Schlimmeres, und endeten
kläglich, und die Welt höhnte darüber, und ver-
dammte ſie rückſichtslos. Jch that es nie, und jetzt
im Elend fühle ich, wie nah bei einander die guten
und die ſchlechten Thaten ruhn, ſo nah wie die
glücklichen und unglücklichen Geſchicke; ein kleiner
Mangel führt zum nächſten großen, man greift
nach der nächſten Rettung, Geiſt und Nerve wird

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[72/0080] geworfen werde. Wenn die Wache auf dem Kor- ridor einen unregelmäßigen Schritt macht, ſo fahr’ ich zuſammen, ich denke, man ſieht es meiner Taſche an, daß verbotenes Papier darin ſteckt, und es treibt mich ein halber Wahnſinn dem Wärter zu ſagen, wenn er mich anſieht, unaufgefordert zu ſagen: Denken Sie nicht etwa, daß ich hier rechts in der Taſche Papierſtückchen und einen Bleiſtift habe! — So nerven- und geiſtesſchwach wird man; man weiß es noch eine Zeitlang, man ſieht ſich bei lebendigem Leibe ſterben. Jch denke an alle die heruntergekommenen Leute meiner Bekanntſchaft, es fiel Eins nach dem Anderen von ihnen ab, der Beſitz, der Umgang, die Kleidung, ſie wollten doch noch auf Augenblicke leben, ſie tranken oder ſie ſtah- len gar und thaten noch Schlimmeres, und endeten kläglich, und die Welt höhnte darüber, und ver- dammte ſie rückſichtslos. Jch that es nie, und jetzt im Elend fühle ich, wie nah bei einander die guten und die ſchlechten Thaten ruhn, ſo nah wie die glücklichen und unglücklichen Geſchicke; ein kleiner Mangel führt zum nächſten großen, man greift nach der nächſten Rettung, Geiſt und Nerve wird

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Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 3. Mannheim, 1837, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa03_1837/80>, abgerufen am 16.05.2024.