Im Sommer 1796 baten mich einige Studenten, ihnen den Kern der orthodoxen Lutherischen Dog- matik vorzutragen. Ich bin immer der Meynung gewesen, daß ein jedes System eines doppelten Vortrags fähig sey. Der eine ist der kritische, wobey man zeigt, wiefern ein System mit den Grundwahrheiten der Vernunft übereinkomme, oder nicht, wiefern es daher wahr oder falsch sey. Daß eine Kritik aller Systeme nicht allein möglich, son- dern auch zur Beförderung der richtigen Einsicht und zur Verbesserung der Systeme höchst nothwen- dig sey, ist gewiß; aber aus mehrern Gründen konnte ich mich damit nicht befangen. Einmal verstehe ich von der kritischen Philosophie selbst noch zu wenig, und fürs andre wollten meine Herren nicht Kritik der Religionstheorie, sondern Kennt- niß dessen, was die symbolischen Bücher der Lu- therischen Kirche lehren, und wie diese Lehrsätze von den Theologen dieser Kirche bewiesen und ver- theidiget werden. Ich schlug also den histori-
Drey und ſechſigſtes Kapitel.
Noch von meiner Beſchaͤftigung. Naſeweiſerey.
Im Sommer 1796 baten mich einige Studenten, ihnen den Kern der orthodoxen Lutheriſchen Dog- matik vorzutragen. Ich bin immer der Meynung geweſen, daß ein jedes Syſtem eines doppelten Vortrags faͤhig ſey. Der eine iſt der kritiſche, wobey man zeigt, wiefern ein Syſtem mit den Grundwahrheiten der Vernunft uͤbereinkomme, oder nicht, wiefern es daher wahr oder falſch ſey. Daß eine Kritik aller Syſteme nicht allein moͤglich, ſon- dern auch zur Befoͤrderung der richtigen Einſicht und zur Verbeſſerung der Syſteme hoͤchſt nothwen- dig ſey, iſt gewiß; aber aus mehrern Gruͤnden konnte ich mich damit nicht befangen. Einmal verſtehe ich von der kritiſchen Philoſophie ſelbſt noch zu wenig, und fuͤrs andre wollten meine Herren nicht Kritik der Religionstheorie, ſondern Kennt- niß deſſen, was die ſymboliſchen Buͤcher der Lu- theriſchen Kirche lehren, und wie dieſe Lehrſaͤtze von den Theologen dieſer Kirche bewieſen und ver- theidiget werden. Ich ſchlug alſo den hiſtori-
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Drey und ſechſigſtes Kapitel.
Noch von meiner Beſchaͤftigung. Naſeweiſerey.
Im Sommer 1796 baten mich einige Studenten,
ihnen den Kern der orthodoxen Lutheriſchen Dog-
matik vorzutragen. Ich bin immer der Meynung
geweſen, daß ein jedes Syſtem eines doppelten
Vortrags faͤhig ſey. Der eine iſt der kritiſche,
wobey man zeigt, wiefern ein Syſtem mit den
Grundwahrheiten der Vernunft uͤbereinkomme, oder
nicht, wiefern es daher wahr oder falſch ſey. Daß
eine Kritik aller Syſteme nicht allein moͤglich, ſon-
dern auch zur Befoͤrderung der richtigen Einſicht
und zur Verbeſſerung der Syſteme hoͤchſt nothwen-
dig ſey, iſt gewiß; aber aus mehrern Gruͤnden
konnte ich mich damit nicht befangen. Einmal
verſtehe ich von der kritiſchen Philoſophie ſelbſt noch
zu wenig, und fuͤrs andre wollten meine Herren
nicht Kritik der Religionstheorie, ſondern Kennt-
niß deſſen, was die ſymboliſchen Buͤcher der Lu-
theriſchen Kirche lehren, und wie dieſe Lehrſaͤtze
von den Theologen dieſer Kirche bewieſen und ver-
theidiget werden. Ich ſchlug alſo den hiſtori-
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 4,2. Leipzig, 1797, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben0402_1797/311>, abgerufen am 22.11.2024.
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