Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Gadarener.
stenthums, dem sie irgend etwas unreines (schweinisches)
aufopfern sollten, mit Höflichkeit und guter Manier los zu
werden: Was soll uns ein Christus, der unser Liebstes
in's Meer stürzen will? Ist das nicht die geheime und öffent-
liche Sprache der Weltleute, die den höchsten Anspruch
auf Vernunft und Weisheit machen?

Und dennoch, welche Unvernunft ist unvernünfti-
ger, als die gadarenische Bitte: "Habe doch die Ge-
wogenheit, von unsern Gränzen wegzuweichen?"

Der, der sie von einem rasenden Menschen, vor
dem keine Seele sicher war, befreyen; Einem viehisch-
gewordenen Menschen die Vernunft in einem Augenbli-
cke wieder geben konnte; -- Er, vor dem ein Heer
Satane sich demüthigen, flehen und fliehen mußte, wo-
hin Er wollte -- Ein solcher Mann sollte doch was in sich
und an sich haben, was der reinsten Vernunft die Bitte
abnöthigen könnte: Herr! Bleibe bey uns! -- Ein
Mann, der nur an unfruchtbaren Feigenbäumen,
den Schweinen und den Teufeln seine verderbende
Herrscherskraft offenbart -- Alles aber, was Mensch
heißt, befreyt und erfreut; Alles menschliche Elend
mit so innigem Erbarmen gleichsam mit seinen Blicken
verschlingt, und in sein Herz verschließt -- sollte doch
wohl auch den gemeinsten Menschen willkommen seyn.
Christus aber mußte und wollte alle Arten von Ent-
fernungen der menschlichen Herzen von sich selbst erfah-
ren. Er wollte die Menschheit von allen Seiten kennen
lernen. Was Christus in seinem Leben wiederfuhr, wieder-

fährt
G 2

Die Gadarener.
ſtenthums, dem ſie irgend etwas unreines (ſchweiniſches)
aufopfern ſollten, mit Höflichkeit und guter Manier los zu
werden: Was ſoll uns ein Chriſtus, der unſer Liebſtes
in’s Meer ſtürzen will? Iſt das nicht die geheime und öffent-
liche Sprache der Weltleute, die den höchſten Anſpruch
auf Vernunft und Weisheit machen?

Und dennoch, welche Unvernunft iſt unvernünfti-
ger, als die gadareniſche Bitte: „Habe doch die Ge-
wogenheit, von unſern Gränzen wegzuweichen?„

Der, der ſie von einem raſenden Menſchen, vor
dem keine Seele ſicher war, befreyen; Einem viehiſch-
gewordenen Menſchen die Vernunft in einem Augenbli-
cke wieder geben konnte; — Er, vor dem ein Heer
Satane ſich demüthigen, flehen und fliehen mußte, wo-
hin Er wollte — Ein ſolcher Mann ſollte doch was in ſich
und an ſich haben, was der reinſten Vernunft die Bitte
abnöthigen könnte: Herr! Bleibe bey uns! — Ein
Mann, der nur an unfruchtbaren Feigenbäumen,
den Schweinen und den Teufeln ſeine verderbende
Herrſcherskraft offenbart — Alles aber, was Menſch
heißt, befreyt und erfreut; Alles menſchliche Elend
mit ſo innigem Erbarmen gleichſam mit ſeinen Blicken
verſchlingt, und in ſein Herz verſchließt — ſollte doch
wohl auch den gemeinſten Menſchen willkommen ſeyn.
Chriſtus aber mußte und wollte alle Arten von Ent-
fernungen der menſchlichen Herzen von ſich ſelbſt erfah-
ren. Er wollte die Menſchheit von allen Seiten kennen
lernen. Was Chriſtus in ſeinem Leben wiederfuhr, wieder-

fährt
G 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0127" n="99[119]"/><fw place="top" type="header">Die Gadarener.</fw><lb/>
&#x017F;tenthums, dem &#x017F;ie irgend etwas unreines (&#x017F;chweini&#x017F;ches)<lb/>
aufopfern &#x017F;ollten, mit Höflichkeit und guter Manier los zu<lb/>
werden: Was &#x017F;oll uns ein <hi rendition="#fr">Chri&#x017F;tus,</hi> der un&#x017F;er Lieb&#x017F;tes<lb/>
in&#x2019;s Meer &#x017F;türzen will? I&#x017F;t das nicht die geheime und öffent-<lb/>
liche Sprache der Weltleute, die den höch&#x017F;ten An&#x017F;pruch<lb/>
auf Vernunft und Weisheit machen?</p><lb/>
            <p>Und dennoch, welche Unvernunft i&#x017F;t unvernünfti-<lb/>
ger, als die gadareni&#x017F;che Bitte: &#x201E;Habe doch die Ge-<lb/>
wogenheit, von un&#x017F;ern Gränzen wegzuweichen?&#x201E;</p><lb/>
            <p>Der, der &#x017F;ie von einem ra&#x017F;enden Men&#x017F;chen, vor<lb/>
dem keine Seele &#x017F;icher war, befreyen; Einem viehi&#x017F;ch-<lb/>
gewordenen Men&#x017F;chen die Vernunft in einem Augenbli-<lb/>
cke wieder geben konnte; &#x2014; Er, vor dem ein Heer<lb/><hi rendition="#fr">Satane</hi> &#x017F;ich demüthigen, flehen und fliehen mußte, wo-<lb/>
hin Er wollte &#x2014; Ein &#x017F;olcher Mann &#x017F;ollte doch was in &#x017F;ich<lb/>
und an &#x017F;ich haben, was der rein&#x017F;ten Vernunft die Bitte<lb/>
abnöthigen könnte: <hi rendition="#fr">Herr! Bleibe bey uns!</hi> &#x2014; Ein<lb/>
Mann, der nur an <hi rendition="#fr">unfruchtbaren Feigenbäumen,</hi><lb/>
den <hi rendition="#fr">Schweinen</hi> und den <hi rendition="#fr">Teufeln</hi> &#x017F;eine verderbende<lb/>
Herr&#x017F;cherskraft offenbart &#x2014; Alles aber, was <hi rendition="#fr">Men&#x017F;ch</hi><lb/>
heißt, <hi rendition="#fr">befreyt</hi> und <hi rendition="#fr">erfreut;</hi> Alles men&#x017F;chliche Elend<lb/>
mit &#x017F;o innigem Erbarmen gleich&#x017F;am mit &#x017F;einen Blicken<lb/>
ver&#x017F;chlingt, und in &#x017F;ein Herz ver&#x017F;chließt &#x2014; &#x017F;ollte doch<lb/>
wohl auch den gemein&#x017F;ten Men&#x017F;chen willkommen &#x017F;eyn.<lb/><hi rendition="#fr">Chri&#x017F;tus</hi> aber mußte und wollte alle Arten von Ent-<lb/>
fernungen der men&#x017F;chlichen Herzen von &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t erfah-<lb/>
ren. Er wollte die Men&#x017F;chheit von allen Seiten kennen<lb/>
lernen. Was <hi rendition="#fr">Chri&#x017F;tus</hi> in &#x017F;einem Leben wiederfuhr, wieder-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 2</fw><fw place="bottom" type="catch">fährt</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99[119]/0127] Die Gadarener. ſtenthums, dem ſie irgend etwas unreines (ſchweiniſches) aufopfern ſollten, mit Höflichkeit und guter Manier los zu werden: Was ſoll uns ein Chriſtus, der unſer Liebſtes in’s Meer ſtürzen will? Iſt das nicht die geheime und öffent- liche Sprache der Weltleute, die den höchſten Anſpruch auf Vernunft und Weisheit machen? Und dennoch, welche Unvernunft iſt unvernünfti- ger, als die gadareniſche Bitte: „Habe doch die Ge- wogenheit, von unſern Gränzen wegzuweichen?„ Der, der ſie von einem raſenden Menſchen, vor dem keine Seele ſicher war, befreyen; Einem viehiſch- gewordenen Menſchen die Vernunft in einem Augenbli- cke wieder geben konnte; — Er, vor dem ein Heer Satane ſich demüthigen, flehen und fliehen mußte, wo- hin Er wollte — Ein ſolcher Mann ſollte doch was in ſich und an ſich haben, was der reinſten Vernunft die Bitte abnöthigen könnte: Herr! Bleibe bey uns! — Ein Mann, der nur an unfruchtbaren Feigenbäumen, den Schweinen und den Teufeln ſeine verderbende Herrſcherskraft offenbart — Alles aber, was Menſch heißt, befreyt und erfreut; Alles menſchliche Elend mit ſo innigem Erbarmen gleichſam mit ſeinen Blicken verſchlingt, und in ſein Herz verſchließt — ſollte doch wohl auch den gemeinſten Menſchen willkommen ſeyn. Chriſtus aber mußte und wollte alle Arten von Ent- fernungen der menſchlichen Herzen von ſich ſelbſt erfah- ren. Er wollte die Menſchheit von allen Seiten kennen lernen. Was Chriſtus in ſeinem Leben wiederfuhr, wieder- fährt G 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/127
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 99[119]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/127>, abgerufen am 21.11.2024.