wirst du mich dreymahl verläugnen. Und gieng hinaus und weynete bitterlich.
Wer von allen, die dieß lesen, hat über diese Ge- schichte nicht schon beynahe alles gehört, was darüber gesagt werden kann? Was sollen wir hier sagen, das Wirkung und Kraft habe?
Von wie mancher Seite läßt sich diese Begebenheit betrachten und benutzen? -- Sie ist die Geschichte der größten Schwäche und der ehrlichsten Treuherzigkeit. So ehrlich wie möglich, und so schwach wie möglich war Petrus. Er ist das Bild, der Heerführer, möcht' ich sagen, der besten und der treulosesten Menschen in einer Person. Alle, die den einem Moment alles, was sie haben, Leib und Leben für Christum und Christenthum, für ihre Hausgenossen und Freunde hingäben -- und den andern Augenblick, so kalt, so gefühllos, so schwach, so treulos sind, daß man nicht mehr denselben Menschen vor sich zu sehen, sich bereden kann, sehen in Petrus ihr leibhaftiges Bild. -- Jesus sollte in eigner mensch- licher Person nicht nur alle Leiden der Menschheit, alle Bedrückungen, deren die menschliche Natur fähig wäre, erfahren, sondern auch, weil Er selbst von aller sitt- lichen Schwachheit srey war, durch andre, die ihm so nahe waren, und so nahe kommen sollten, wie möglich, die sittlichen Schwachheiten, Mängel und Verbrechen aller Art, ihr Entstehen, ihren Gang und ihr Wachs- thum so unmittelbar erkennen, erfahren -- und so un- mittelbar, wie möglich davon gedrückt werden. Die menschliche Schwachheit sollte Ihm in allen möglichen
Gestal-
Matthäus XXVI.
wirſt du mich dreymahl verläugnen. Und gieng hinaus und weynete bitterlich.
Wer von allen, die dieß leſen, hat über dieſe Ge- ſchichte nicht ſchon beynahe alles gehört, was darüber geſagt werden kann? Was ſollen wir hier ſagen, das Wirkung und Kraft habe?
Von wie mancher Seite läßt ſich dieſe Begebenheit betrachten und benutzen? — Sie iſt die Geſchichte der größten Schwäche und der ehrlichſten Treuherzigkeit. So ehrlich wie möglich, und ſo ſchwach wie möglich war Petrus. Er iſt das Bild, der Heerführer, möcht’ ich ſagen, der beſten und der treuloſeſten Menſchen in einer Perſon. Alle, die den einem Moment alles, was ſie haben, Leib und Leben für Chriſtum und Chriſtenthum, für ihre Hausgenoſſen und Freunde hingäben — und den andern Augenblick, ſo kalt, ſo gefühllos, ſo ſchwach, ſo treulos ſind, daß man nicht mehr denſelben Menſchen vor ſich zu ſehen, ſich bereden kann, ſehen in Petrus ihr leibhaftiges Bild. — Jeſus ſollte in eigner menſch- licher Perſon nicht nur alle Leiden der Menſchheit, alle Bedrückungen, deren die menſchliche Natur fähig wäre, erfahren, ſondern auch, weil Er ſelbſt von aller ſitt- lichen Schwachheit ſrey war, durch andre, die ihm ſo nahe waren, und ſo nahe kommen ſollten, wie möglich, die ſittlichen Schwachheiten, Mängel und Verbrechen aller Art, ihr Entſtehen, ihren Gang und ihr Wachs- thum ſo unmittelbar erkennen, erfahren — und ſo un- mittelbar, wie möglich davon gedrückt werden. Die menſchliche Schwachheit ſollte Ihm in allen möglichen
Geſtal-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0520"n="492[512]"/><fwplace="top"type="header">Matthäus <hirendition="#aq">XXVI.</hi></fw><lb/><hirendition="#fr">wirſt du mich dreymahl verläugnen. Und gieng<lb/>
hinaus und weynete bitterlich.</hi></p><lb/><p>Wer von allen, die dieß leſen, hat über dieſe Ge-<lb/>ſchichte nicht ſchon beynahe alles gehört, was darüber<lb/>
geſagt werden kann? Was ſollen wir hier ſagen, das<lb/>
Wirkung und Kraft habe?</p><lb/><p>Von wie mancher Seite läßt ſich dieſe Begebenheit<lb/>
betrachten und benutzen? — Sie iſt die Geſchichte der<lb/>
größten Schwäche und der ehrlichſten Treuherzigkeit. So<lb/>
ehrlich wie möglich, und ſo ſchwach wie möglich war<lb/><hirendition="#fr">Petrus.</hi> Er iſt das Bild, der Heerführer, möcht’ ich<lb/>ſagen, der beſten und der treuloſeſten Menſchen in einer<lb/>
Perſon. Alle, die den einem Moment alles, was ſie<lb/>
haben, Leib und Leben für Chriſtum und Chriſtenthum,<lb/>
für ihre Hausgenoſſen und Freunde hingäben — und<lb/>
den andern Augenblick, ſo kalt, ſo gefühllos, ſo ſchwach,<lb/>ſo treulos ſind, daß man nicht mehr denſelben Menſchen<lb/>
vor ſich zu ſehen, ſich bereden kann, ſehen in Petrus<lb/>
ihr leibhaftiges Bild. —<hirendition="#fr">Jeſus</hi>ſollte in eigner menſch-<lb/>
licher Perſon nicht nur alle Leiden der Menſchheit, alle<lb/>
Bedrückungen, deren die menſchliche Natur fähig wäre,<lb/>
erfahren, ſondern auch, weil Er ſelbſt von aller ſitt-<lb/>
lichen Schwachheit ſrey war, durch andre, die ihm ſo<lb/>
nahe waren, und ſo nahe kommen ſollten, wie möglich,<lb/>
die ſittlichen Schwachheiten, Mängel und Verbrechen<lb/>
aller Art, ihr Entſtehen, ihren Gang und ihr Wachs-<lb/>
thum ſo unmittelbar erkennen, erfahren — und ſo un-<lb/>
mittelbar, wie möglich davon gedrückt werden. Die<lb/>
menſchliche Schwachheit ſollte Ihm in allen möglichen<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Geſtal-</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[492[512]/0520]
Matthäus XXVI.
wirſt du mich dreymahl verläugnen. Und gieng
hinaus und weynete bitterlich.
Wer von allen, die dieß leſen, hat über dieſe Ge-
ſchichte nicht ſchon beynahe alles gehört, was darüber
geſagt werden kann? Was ſollen wir hier ſagen, das
Wirkung und Kraft habe?
Von wie mancher Seite läßt ſich dieſe Begebenheit
betrachten und benutzen? — Sie iſt die Geſchichte der
größten Schwäche und der ehrlichſten Treuherzigkeit. So
ehrlich wie möglich, und ſo ſchwach wie möglich war
Petrus. Er iſt das Bild, der Heerführer, möcht’ ich
ſagen, der beſten und der treuloſeſten Menſchen in einer
Perſon. Alle, die den einem Moment alles, was ſie
haben, Leib und Leben für Chriſtum und Chriſtenthum,
für ihre Hausgenoſſen und Freunde hingäben — und
den andern Augenblick, ſo kalt, ſo gefühllos, ſo ſchwach,
ſo treulos ſind, daß man nicht mehr denſelben Menſchen
vor ſich zu ſehen, ſich bereden kann, ſehen in Petrus
ihr leibhaftiges Bild. — Jeſus ſollte in eigner menſch-
licher Perſon nicht nur alle Leiden der Menſchheit, alle
Bedrückungen, deren die menſchliche Natur fähig wäre,
erfahren, ſondern auch, weil Er ſelbſt von aller ſitt-
lichen Schwachheit ſrey war, durch andre, die ihm ſo
nahe waren, und ſo nahe kommen ſollten, wie möglich,
die ſittlichen Schwachheiten, Mängel und Verbrechen
aller Art, ihr Entſtehen, ihren Gang und ihr Wachs-
thum ſo unmittelbar erkennen, erfahren — und ſo un-
mittelbar, wie möglich davon gedrückt werden. Die
menſchliche Schwachheit ſollte Ihm in allen möglichen
Geſtal-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 492[512]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/520>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.