Auf alle andere Klagpunkte, oder vielmehr auf das leidenschaftliche, verworrene Geschrey seiner Feinde antwortet Jesus nicht ein einziges Wort. "Wenn ich &q;schweige, und wenn die Steine auf den Gassen zu &q;Jerusalem nicht für Mich zeugen und schreyen, so wird &q;Gott im Himmel für Mich sprechen. Je tiefer Ich &q;schweige, desto lauter und entscheidender wird Er für &q;Mich sprechen" -- So dachte unser Herr im Inner- sten seiner Seele. Fest stand Er, wie ein Fels unter tausend auf Ihn zustürmenden Wogen. Sein stilles, gelassenes, Gottstillhaltendes Dastehn, verbunden mit dem freysten und klärsten Bekenntniß seiner überweltlichen, göttlichen Königswürde war beredter, sprechender für seine Unschuld, antwortender auf alle Klagpunkte, alles Geschrey, als alles, was Er mit Worten dagegen gesagt haben würde ... O lehre Du uns, grosser Dulder, weiser und beredter Schweiger zu rechter Zeit reden, und zu rechter schweigen! Freymüthig die Wahrheit bekennen, wo Pflicht, Beruf, Gewissen ein freyes Bekenntniß fordern -- Edel und christlich schweigen und dulden, wo gehörlose Leidenschaft um uns her tobt und wütet.
228. Jesus und Barrabas.
Auf das Fest aber hatte der Landpfleger Ge-Matth. XXVII. 15-21. wohnheit, dem Volk einen Gefangenen ledig zu geben, welchen sie wollten. Er hatte aber zu derselbigen Zeit einen Gefangenen, einen sonder- lichen vor andern, der hieß Barrabas. Und
da
Jeſus und Barrabas.
Auf alle andere Klagpunkte, oder vielmehr auf das leidenſchaftliche, verworrene Geſchrey ſeiner Feinde antwortet Jeſus nicht ein einziges Wort. „Wenn ich &q;ſchweige, und wenn die Steine auf den Gaſſen zu &q;Jeruſalem nicht für Mich zeugen und ſchreyen, ſo wird &q;Gott im Himmel für Mich ſprechen. Je tiefer Ich &q;ſchweige, deſto lauter und entſcheidender wird Er für &q;Mich ſprechen“ — So dachte unſer Herr im Inner- ſten ſeiner Seele. Feſt ſtand Er, wie ein Fels unter tauſend auf Ihn zuſtürmenden Wogen. Sein ſtilles, gelaſſenes, Gottſtillhaltendes Daſtehn, verbunden mit dem freyſten und klärſten Bekenntniß ſeiner überweltlichen, göttlichen Königswürde war beredter, ſprechender für ſeine Unſchuld, antwortender auf alle Klagpunkte, alles Geſchrey, als alles, was Er mit Worten dagegen geſagt haben würde ... O lehre Du uns, groſſer Dulder, weiſer und beredter Schweiger zu rechter Zeit reden, und zu rechter ſchweigen! Freymüthig die Wahrheit bekennen, wo Pflicht, Beruf, Gewiſſen ein freyes Bekenntniß fordern — Edel und chriſtlich ſchweigen und dulden, wo gehörloſe Leidenſchaft um uns her tobt und wütet.
228. Jeſus und Barrabas.
Auf das Feſt aber hatte der Landpfleger Ge-Matth. XXVII. 15-21. wohnheit, dem Volk einen Gefangenen ledig zu geben, welchen ſie wollten. Er hatte aber zu derſelbigen Zeit einen Gefangenen, einen ſonder- lichen vor andern, der hieß Barrabas. Und
da
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0535"n="507[527]"/><fwplace="top"type="header">Jeſus und Barrabas.</fw><lb/><p>Auf alle andere Klagpunkte, oder vielmehr auf<lb/>
das leidenſchaftliche, verworrene Geſchrey ſeiner Feinde<lb/>
antwortet Jeſus nicht ein einziges Wort. „Wenn ich<lb/>&q;ſchweige, und wenn die Steine auf den Gaſſen zu<lb/>&q;Jeruſalem nicht für Mich zeugen und ſchreyen, ſo wird<lb/>&q;Gott im Himmel für Mich ſprechen. Je tiefer Ich<lb/>&q;ſchweige, deſto lauter und entſcheidender wird Er für<lb/>&q;Mich ſprechen“— So dachte unſer Herr im Inner-<lb/>ſten ſeiner Seele. Feſt ſtand Er, wie ein Fels unter<lb/>
tauſend auf Ihn zuſtürmenden Wogen. Sein ſtilles,<lb/>
gelaſſenes, Gottſtillhaltendes Daſtehn, verbunden mit<lb/>
dem freyſten und klärſten Bekenntniß ſeiner überweltlichen,<lb/>
göttlichen Königswürde war beredter, ſprechender für ſeine<lb/>
Unſchuld, antwortender auf alle Klagpunkte, alles<lb/>
Geſchrey, als alles, was Er mit Worten dagegen geſagt<lb/>
haben würde ... O lehre Du uns, groſſer Dulder,<lb/>
weiſer und beredter Schweiger zu rechter Zeit reden, und<lb/>
zu rechter ſchweigen! Freymüthig die Wahrheit bekennen,<lb/>
wo Pflicht, Beruf, Gewiſſen ein freyes Bekenntniß<lb/>
fordern — Edel und chriſtlich ſchweigen und dulden, wo<lb/>
gehörloſe Leidenſchaft um uns her tobt und wütet.</p></div><lb/><divn="3"><head>228.<lb/>
Jeſus und Barrabas.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Auf das Feſt aber hatte der Landpfleger Ge-</hi><noteplace="right">Matth.<lb/><hirendition="#aq">XXVII.</hi><lb/>
15-21.</note><lb/><hirendition="#fr">wohnheit, dem Volk einen Gefangenen ledig zu<lb/>
geben, welchen ſie wollten. Er hatte aber zu<lb/>
derſelbigen Zeit einen Gefangenen, einen ſonder-<lb/>
lichen vor andern, der hieß Barrabas. Und</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">da</hi></fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[507[527]/0535]
Jeſus und Barrabas.
Auf alle andere Klagpunkte, oder vielmehr auf
das leidenſchaftliche, verworrene Geſchrey ſeiner Feinde
antwortet Jeſus nicht ein einziges Wort. „Wenn ich
&q;ſchweige, und wenn die Steine auf den Gaſſen zu
&q;Jeruſalem nicht für Mich zeugen und ſchreyen, ſo wird
&q;Gott im Himmel für Mich ſprechen. Je tiefer Ich
&q;ſchweige, deſto lauter und entſcheidender wird Er für
&q;Mich ſprechen“ — So dachte unſer Herr im Inner-
ſten ſeiner Seele. Feſt ſtand Er, wie ein Fels unter
tauſend auf Ihn zuſtürmenden Wogen. Sein ſtilles,
gelaſſenes, Gottſtillhaltendes Daſtehn, verbunden mit
dem freyſten und klärſten Bekenntniß ſeiner überweltlichen,
göttlichen Königswürde war beredter, ſprechender für ſeine
Unſchuld, antwortender auf alle Klagpunkte, alles
Geſchrey, als alles, was Er mit Worten dagegen geſagt
haben würde ... O lehre Du uns, groſſer Dulder,
weiſer und beredter Schweiger zu rechter Zeit reden, und
zu rechter ſchweigen! Freymüthig die Wahrheit bekennen,
wo Pflicht, Beruf, Gewiſſen ein freyes Bekenntniß
fordern — Edel und chriſtlich ſchweigen und dulden, wo
gehörloſe Leidenſchaft um uns her tobt und wütet.
228.
Jeſus und Barrabas.
Auf das Feſt aber hatte der Landpfleger Ge-
wohnheit, dem Volk einen Gefangenen ledig zu
geben, welchen ſie wollten. Er hatte aber zu
derſelbigen Zeit einen Gefangenen, einen ſonder-
lichen vor andern, der hieß Barrabas. Und
da
Matth.
XXVII.
15-21.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 507[527]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/535>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.