da sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ih- nen: Welchen wollet ihr, daß ich euch los gebe? Barrabam oder Jesum, von dem gesagt wird: Er sey Christus? Denn er wußte wohl, daß sie Ihn aus Neid überantwortet hatten. Und da er auf dem Richtstuhl saß, schickte sein Weib zu ihm, und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu thun mit diesem Gerechten; Ich habe heut viel erlitten im Traum von seinetwegen. Aber die Hohenpriester und Aeltesten überredeten das Volk, daß sie um Barrabas bitten sollten, und Jesum umbrächten. Da antwortete nun der Landpfle- ger und sprach zu ihnen: Welchen wollet ihr un- ter diesen zween, den ich euch soll los geben? Sie sprachen: Barrabam.
Pilatus ließ nichts unversucht, Jesum zu retten; Der Neid und die Schalkheit der jüdischen Priester nichts unversucht, Ihn durch die Hand des Pilatus ermorden zu lassen. Wahrheit und Lüge, Unschuld und Schuld, Tugend und Laster -- Auferwe- cker vom Tode und Mörder, Jesus und Barra- bas neben einander -- -- welche Kraft sollte dieß Ne- beneinanderstehen auf das Herz des Volkes haben -- wie schnell es umwenden, beschämen, bestimmen! -- Es sollte keinen Augenblick mehr anstehen; Die Wahrheit und Unschuld sollten siegen -- aber sie siegen nicht mehr; Die Tugend hat selbst neben dem Laster keine Reize mehr für einen bis zur Gefühllosigkeit versunkenen, un- verbesserlichen Menschen. Und sicherlich ist dieß das un-
trüg-
Matthäus XXVII.
da ſie verſammelt waren, ſprach Pilatus zu ih- nen: Welchen wollet ihr, daß ich euch los gebe? Barrabam oder Jeſum, von dem geſagt wird: Er ſey Chriſtus? Denn er wußte wohl, daß ſie Ihn aus Neid überantwortet hatten. Und da er auf dem Richtſtuhl ſaß, ſchickte ſein Weib zu ihm, und ließ ihm ſagen: Habe du nichts zu thun mit dieſem Gerechten; Ich habe heut viel erlitten im Traum von ſeinetwegen. Aber die Hohenprieſter und Aelteſten überredeten das Volk, daß ſie um Barrabas bitten ſollten, und Jeſum umbrächten. Da antwortete nun der Landpfle- ger und ſprach zu ihnen: Welchen wollet ihr un- ter dieſen zween, den ich euch ſoll los geben? Sie ſprachen: Barrabam.
Pilatus ließ nichts unverſucht, Jeſum zu retten; Der Neid und die Schalkheit der jüdiſchen Prieſter nichts unverſucht, Ihn durch die Hand des Pilatus ermorden zu laſſen. Wahrheit und Lüge, Unſchuld und Schuld, Tugend und Laſter — Auferwe- cker vom Tode und Mörder, Jeſus und Barra- bas neben einander — — welche Kraft ſollte dieß Ne- beneinanderſtehen auf das Herz des Volkes haben — wie ſchnell es umwenden, beſchämen, beſtimmen! — Es ſollte keinen Augenblick mehr anſtehen; Die Wahrheit und Unſchuld ſollten ſiegen — aber ſie ſiegen nicht mehr; Die Tugend hat ſelbſt neben dem Laſter keine Reize mehr für einen bis zur Gefühlloſigkeit verſunkenen, un- verbeſſerlichen Menſchen. Und ſicherlich iſt dieß das un-
trüg-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0536"n="508[528]"/><fwplace="top"type="header">Matthäus <hirendition="#aq">XXVII.</hi></fw><lb/><hirendition="#fr">da ſie verſammelt waren, ſprach Pilatus zu ih-<lb/>
nen: Welchen wollet ihr, daß ich euch los gebe?<lb/>
Barrabam oder Jeſum, von dem geſagt wird:<lb/>
Er ſey Chriſtus? Denn er wußte wohl, daß ſie<lb/>
Ihn aus Neid überantwortet hatten. Und da<lb/>
er auf dem Richtſtuhl ſaß, ſchickte ſein Weib zu<lb/>
ihm, und ließ ihm ſagen: Habe du nichts zu<lb/>
thun mit dieſem Gerechten; Ich habe heut viel<lb/>
erlitten im Traum von ſeinetwegen. Aber die<lb/>
Hohenprieſter und Aelteſten überredeten das Volk,<lb/>
daß ſie um Barrabas bitten ſollten, und Jeſum<lb/>
umbrächten. Da antwortete nun der Landpfle-<lb/>
ger und ſprach zu ihnen: Welchen wollet ihr un-<lb/>
ter dieſen zween, den ich euch ſoll los geben?<lb/>
Sie ſprachen: Barrabam.</hi></p><lb/><p><hirendition="#fr">Pilatus</hi> ließ nichts unverſucht, Jeſum zu retten;<lb/>
Der Neid und die Schalkheit der jüdiſchen Prieſter<lb/>
nichts unverſucht, Ihn durch die Hand des Pilatus<lb/>
ermorden zu laſſen. <hirendition="#fr">Wahrheit</hi> und <hirendition="#fr">Lüge, Unſchuld</hi><lb/>
und <hirendition="#fr">Schuld, Tugend</hi> und <hirendition="#fr">Laſter — Auferwe-<lb/>
cker</hi> vom <hirendition="#fr">Tode</hi> und <hirendition="#fr">Mörder, Jeſus</hi> und <hirendition="#fr">Barra-<lb/>
bas</hi> neben einander —— welche Kraft ſollte dieß Ne-<lb/>
beneinanderſtehen auf das Herz des Volkes haben —<lb/>
wie ſchnell es umwenden, beſchämen, beſtimmen! — Es<lb/>ſollte keinen Augenblick mehr anſtehen; Die Wahrheit<lb/>
und Unſchuld ſollten ſiegen — aber ſie ſiegen nicht<lb/>
mehr; Die Tugend hat ſelbſt neben dem Laſter keine Reize<lb/>
mehr für einen bis zur Gefühlloſigkeit verſunkenen, un-<lb/>
verbeſſerlichen Menſchen. Und ſicherlich iſt dieß das un-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">trüg-</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[508[528]/0536]
Matthäus XXVII.
da ſie verſammelt waren, ſprach Pilatus zu ih-
nen: Welchen wollet ihr, daß ich euch los gebe?
Barrabam oder Jeſum, von dem geſagt wird:
Er ſey Chriſtus? Denn er wußte wohl, daß ſie
Ihn aus Neid überantwortet hatten. Und da
er auf dem Richtſtuhl ſaß, ſchickte ſein Weib zu
ihm, und ließ ihm ſagen: Habe du nichts zu
thun mit dieſem Gerechten; Ich habe heut viel
erlitten im Traum von ſeinetwegen. Aber die
Hohenprieſter und Aelteſten überredeten das Volk,
daß ſie um Barrabas bitten ſollten, und Jeſum
umbrächten. Da antwortete nun der Landpfle-
ger und ſprach zu ihnen: Welchen wollet ihr un-
ter dieſen zween, den ich euch ſoll los geben?
Sie ſprachen: Barrabam.
Pilatus ließ nichts unverſucht, Jeſum zu retten;
Der Neid und die Schalkheit der jüdiſchen Prieſter
nichts unverſucht, Ihn durch die Hand des Pilatus
ermorden zu laſſen. Wahrheit und Lüge, Unſchuld
und Schuld, Tugend und Laſter — Auferwe-
cker vom Tode und Mörder, Jeſus und Barra-
bas neben einander — — welche Kraft ſollte dieß Ne-
beneinanderſtehen auf das Herz des Volkes haben —
wie ſchnell es umwenden, beſchämen, beſtimmen! — Es
ſollte keinen Augenblick mehr anſtehen; Die Wahrheit
und Unſchuld ſollten ſiegen — aber ſie ſiegen nicht
mehr; Die Tugend hat ſelbſt neben dem Laſter keine Reize
mehr für einen bis zur Gefühlloſigkeit verſunkenen, un-
verbeſſerlichen Menſchen. Und ſicherlich iſt dieß das un-
trüg-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 508[528]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/536>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.