Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_086.001 ple_086.027 ple_086.001 ple_086.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0100" n="86"/><lb n="ple_086.001"/> Konrad Ferdinand Meyers. Wenn nun gleichwohl die Bilder und Szenen, <lb n="ple_086.002"/> welche die drei letztgenannten entworfen, so beträchtlich schärfere Umrisse <lb n="ple_086.003"/> und anschaulichere Farben aufweisen, so kann das nicht ausschließlich <lb n="ple_086.004"/> durch die Intensität des inneren Nacherlebens und Nachempfindens bewirkt <lb n="ple_086.005"/> sein; vielmehr muß in der <hi rendition="#g">Art</hi> dieses Erlebens und Empfindens <lb n="ple_086.006"/> eine Verschiedenheit liegen. Offenbar verläuft bei einer Reihe von Dichtern <lb n="ple_086.007"/> das künstlerische Erlebnis selbst mehr im Inneren und Unanschaulichen, <lb n="ple_086.008"/> bei anderen wahrt es mehr den Zusammenhang mit der sinnlichen Anschauung. <lb n="ple_086.009"/> Mit anderen Worten: auf die Innenwelt der einen wirken die <lb n="ple_086.010"/> anschaulichen Eindrücke der Außenwelt stärker nach, auf die anderen <lb n="ple_086.011"/> schwächer, ohne daß darum die innere Lebendigkeit selbst, die Kraft der <lb n="ple_086.012"/> Phantasie an sich stärker oder schwächer zu sein brauchte. Sie nimmt <lb n="ple_086.013"/> eben nur eine andere Richtung, trägt einen anderen Charakter. Natürlich <lb n="ple_086.014"/> genug: wenn wir der Poesie die mittlere Stelle zwischen Musik und bildender <lb n="ple_086.015"/> Kunst eingeräumt haben, so kann das nicht heißen, daß sie auf einer <lb n="ple_086.016"/> scharf bezeichneten Linie ein für allemal festliegt: sie bewegt sich vielmehr <lb n="ple_086.017"/> in einem weiten Zwischenraum auf und ab und nähert sich je nachdem <lb n="ple_086.018"/> mehr dem einen oder dem anderen Extrem. Jeder Dichter zwar ist, wie <lb n="ple_086.019"/> die Psychologie es ausdrückt, <hi rendition="#g">auditiv</hi> veranlagt, d. h. Gefühle und Empfindungen <lb n="ple_086.020"/> setzen sich ihm unmittelbar in Wortklänge um, die er innerlich <lb n="ple_086.021"/> hört und in seinen Versen wiedergibt: sonst wäre er eben kein Dichter. <lb n="ple_086.022"/> Hierzu aber gesellt sich ein sehr verschiedenes Maß visueller Begabung. <lb n="ple_086.023"/> Der eine sieht scharf und deutlich, wo der andere nur schwache Umrisse <lb n="ple_086.024"/> erblickt, aber vielleicht um so stärker und innerlicher ergriffen und bewegt <lb n="ple_086.025"/> ist, und ihre Schöpfungen tragen deutlich den entsprechend verschiedenen <lb n="ple_086.026"/> Charakter.</p> <p><lb n="ple_086.027"/> Die Verschiedenheit haftet nicht ausschließlich an der Persönlichkeit <lb n="ple_086.028"/> des Dichters; sie hängt bisweilen einfach von dem Gegenstande der Darstellung, <lb n="ple_086.029"/> dem Inhalt des dichterischen Erlebnisses ab. Derselbe Goethe <lb n="ple_086.030"/> schreibt in derselben Epoche seines Lebens den subjektiv innerlichen <lb n="ple_086.031"/> Werther und den durchaus plastisch anschaulichen Wanderer. Auch die <lb n="ple_086.032"/> Gattung des Gedichts übt Einfluß aus: das Epische erfordert mehr anschauliches, <lb n="ple_086.033"/> Drama und Lyrik mehr innerliches Erleben; man vergleiche <lb n="ple_086.034"/> den Tasso mit Hermann und Dorothea. Das Entscheidende aber bleibt <lb n="ple_086.035"/> gleichwohl die individuelle Anlage des Dichters. Die gefühlsbetonte Empfindung, <lb n="ple_086.036"/> aus der die Dichtersprache und die poetische Darstellung überhaupt <lb n="ple_086.037"/> hervorgeht, ist nicht bei allen Dichternaturen die gleiche. Sie kann <lb n="ple_086.038"/> mehr oder weniger objektiven Anschauungsgehalt, mehr oder weniger subjektive <lb n="ple_086.039"/> Gefühlstöne enthalten, wie das auch im Gebiete der elementaren <lb n="ple_086.040"/> Sinnesempfindung der Fall ist. Dort steht beides zumeist im umgekehrten <lb n="ple_086.041"/> Verhältnis; in den höheren ästhetischen Erscheinungen entsprechen sie sich <lb n="ple_086.042"/> mindestens nicht einfach. Auch hier besteht nicht selten ein deutlicher <lb n="ple_086.043"/> Gegensatz zwischen ausgesprochen visuellen und ebenso ausgesprochen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [86/0100]
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Konrad Ferdinand Meyers. Wenn nun gleichwohl die Bilder und Szenen, ple_086.002
welche die drei letztgenannten entworfen, so beträchtlich schärfere Umrisse ple_086.003
und anschaulichere Farben aufweisen, so kann das nicht ausschließlich ple_086.004
durch die Intensität des inneren Nacherlebens und Nachempfindens bewirkt ple_086.005
sein; vielmehr muß in der Art dieses Erlebens und Empfindens ple_086.006
eine Verschiedenheit liegen. Offenbar verläuft bei einer Reihe von Dichtern ple_086.007
das künstlerische Erlebnis selbst mehr im Inneren und Unanschaulichen, ple_086.008
bei anderen wahrt es mehr den Zusammenhang mit der sinnlichen Anschauung. ple_086.009
Mit anderen Worten: auf die Innenwelt der einen wirken die ple_086.010
anschaulichen Eindrücke der Außenwelt stärker nach, auf die anderen ple_086.011
schwächer, ohne daß darum die innere Lebendigkeit selbst, die Kraft der ple_086.012
Phantasie an sich stärker oder schwächer zu sein brauchte. Sie nimmt ple_086.013
eben nur eine andere Richtung, trägt einen anderen Charakter. Natürlich ple_086.014
genug: wenn wir der Poesie die mittlere Stelle zwischen Musik und bildender ple_086.015
Kunst eingeräumt haben, so kann das nicht heißen, daß sie auf einer ple_086.016
scharf bezeichneten Linie ein für allemal festliegt: sie bewegt sich vielmehr ple_086.017
in einem weiten Zwischenraum auf und ab und nähert sich je nachdem ple_086.018
mehr dem einen oder dem anderen Extrem. Jeder Dichter zwar ist, wie ple_086.019
die Psychologie es ausdrückt, auditiv veranlagt, d. h. Gefühle und Empfindungen ple_086.020
setzen sich ihm unmittelbar in Wortklänge um, die er innerlich ple_086.021
hört und in seinen Versen wiedergibt: sonst wäre er eben kein Dichter. ple_086.022
Hierzu aber gesellt sich ein sehr verschiedenes Maß visueller Begabung. ple_086.023
Der eine sieht scharf und deutlich, wo der andere nur schwache Umrisse ple_086.024
erblickt, aber vielleicht um so stärker und innerlicher ergriffen und bewegt ple_086.025
ist, und ihre Schöpfungen tragen deutlich den entsprechend verschiedenen ple_086.026
Charakter.
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Die Verschiedenheit haftet nicht ausschließlich an der Persönlichkeit ple_086.028
des Dichters; sie hängt bisweilen einfach von dem Gegenstande der Darstellung, ple_086.029
dem Inhalt des dichterischen Erlebnisses ab. Derselbe Goethe ple_086.030
schreibt in derselben Epoche seines Lebens den subjektiv innerlichen ple_086.031
Werther und den durchaus plastisch anschaulichen Wanderer. Auch die ple_086.032
Gattung des Gedichts übt Einfluß aus: das Epische erfordert mehr anschauliches, ple_086.033
Drama und Lyrik mehr innerliches Erleben; man vergleiche ple_086.034
den Tasso mit Hermann und Dorothea. Das Entscheidende aber bleibt ple_086.035
gleichwohl die individuelle Anlage des Dichters. Die gefühlsbetonte Empfindung, ple_086.036
aus der die Dichtersprache und die poetische Darstellung überhaupt ple_086.037
hervorgeht, ist nicht bei allen Dichternaturen die gleiche. Sie kann ple_086.038
mehr oder weniger objektiven Anschauungsgehalt, mehr oder weniger subjektive ple_086.039
Gefühlstöne enthalten, wie das auch im Gebiete der elementaren ple_086.040
Sinnesempfindung der Fall ist. Dort steht beides zumeist im umgekehrten ple_086.041
Verhältnis; in den höheren ästhetischen Erscheinungen entsprechen sie sich ple_086.042
mindestens nicht einfach. Auch hier besteht nicht selten ein deutlicher ple_086.043
Gegensatz zwischen ausgesprochen visuellen und ebenso ausgesprochen
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