Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_085.001 ple_085.008 ple_085.021 ple_085.001 ple_085.008 ple_085.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <pb facs="#f0099" n="85"/> <lb n="ple_085.001"/> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#g">Septembermorgen.</hi> </hi> </hi> <lb n="ple_085.002"/> <hi rendition="#aq"> <lg> <l>Im Nebel ruhet noch die Welt,</l> <lb n="ple_085.003"/> <l>Noch träumen Wald und Wiesen:</l> <lb n="ple_085.004"/> <l>Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,</l> <lb n="ple_085.005"/> <l>Den blauen Himmel unverstellt,</l> <lb n="ple_085.006"/> <l>Herbstkräftig die gedämpfte Welt</l> <lb n="ple_085.007"/> <l>In warmem Golde fließen.</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_085.008"/> Es muß doch wohl so sein, daß in diesen Gedichten die Bezeichnung <lb n="ple_085.009"/> der Sinneseindrücke, besonders der Farben der Landschaft unmittelbar entsprechende <lb n="ple_085.010"/> Anschauungen in uns erweckt, und offenbar sind es die starken <lb n="ple_085.011"/> Kontrastwirkungen, durch die sie verschärft und belebt werden: der schwarze <lb n="ple_085.012"/> Wald und der weiße Nebel, der blaue Himmel und das warme Gold der <lb n="ple_085.013"/> Herbstlandschaft. Das schließt keineswegs aus, daß diese Sinneseindrücke <lb n="ple_085.014"/> mit einem starken Gefühlston verbunden, in der Seele des Dichters lebendig <lb n="ple_085.015"/> geworden sind und gerade hierdurch auch seine Sprache so kraftvoll und <lb n="ple_085.016"/> wirksam gestaltet haben. Aber es ist doch deutlich, daß diese Verse nicht <lb n="ple_085.017"/> zunächst Stimmungen und Gefühle und hierdurch erst die Illusion der <lb n="ple_085.018"/> bestimmten Anschauung wachrufen, sondern daß es umgekehrt bestimmte <lb n="ple_085.019"/> Elemente sinnlicher Farbenanschauungen sind, die in uns erweckt werden <lb n="ple_085.020"/> und aus denen die Stimmung vielmehr erst hervorgeht.</p> <p><lb n="ple_085.021"/> Diese Möglichkeit wird durch eine allgemeinere Erscheinung bewährt. <lb n="ple_085.022"/> Es gibt eine Anzahl epischer Dichter und Romanschriftsteller, deren Darstellung <lb n="ple_085.023"/> in besonders hohem Maße den Eindruck sinnlicher Anschaulichkeit <lb n="ple_085.024"/> hervorruft. Je nach der Richtung, der sie angehören, eignet ihren Bildern <lb n="ple_085.025"/> eine komische Drastik oder eine unheimlich visionäre Deutlichkeit. Für <lb n="ple_085.026"/> das erste ist Dickens, für das zweite E. A. Poe typisch, während E. Th. A. <lb n="ple_085.027"/> Hoffmann beide Wirkungen vereinigt. Konrad Ferdinand Meyers Gestalten <lb n="ple_085.028"/> und Szenen besitzen vor allem plastische Festigkeit und monumentale Größe, <lb n="ple_085.029"/> während die seines Landsmanns Keller mehr malerische als plastische Eigenschaften <lb n="ple_085.030"/> zeigen: lebendige Frische und künstlerische Harmonie der Farben, <lb n="ple_085.031"/> feine Abtönung der Landschaft und liebevolle Anschaulichkeit des charakteristischen <lb n="ple_085.032"/> Details. Bei allen Genannten aber hat man den Eindruck, daß <lb n="ple_085.033"/> sie scharf umrissene Bilder gesehen und wiedergegeben haben, und jeder <lb n="ple_085.034"/> einigermaßen phantasievolle Leser wird bei ihrer Lektüre ähnliche, wenn <lb n="ple_085.035"/> auch schwächere Bilder zu sehen glauben. Nun mag hieran immerhin die Kraft <lb n="ple_085.036"/> des Gefühlslebens, welche Worte und Darstellungen durchtränkt, einen starken <lb n="ple_085.037"/> Anteil haben. Vergleicht man aber die genannten Dichter mit anderen, die ihnen <lb n="ple_085.038"/> der Gefühlsweise nach verwandt sind, so sieht man bald, daß die Stärke des <lb n="ple_085.039"/> Gefühls es nicht allein macht, daß vielmehr noch etwas anderes hinzukommen <lb n="ple_085.040"/> muß, um die Eigenart dieser Bildlichkeit zu erklären. Denn Jean Paul empfindet <lb n="ple_085.041"/> an sich gewiß nicht schwächer als Dickens, das innere Leben, das <lb n="ple_085.042"/> Hölderlins Hyperion erfüllt, ist nicht minder intensiv als das im Grünen <lb n="ple_085.043"/> Heinrich, und W. Alexis' Fähigkeit zu phantasievollem Nachempfinden geschichtlicher <lb n="ple_085.044"/> Persönlichkeiten und Ereignisse ist nicht geringer als die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0099]
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Septembermorgen. ple_085.002
Im Nebel ruhet noch die Welt, ple_085.003
Noch träumen Wald und Wiesen: ple_085.004
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, ple_085.005
Den blauen Himmel unverstellt, ple_085.006
Herbstkräftig die gedämpfte Welt ple_085.007
In warmem Golde fließen.
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Es muß doch wohl so sein, daß in diesen Gedichten die Bezeichnung ple_085.009
der Sinneseindrücke, besonders der Farben der Landschaft unmittelbar entsprechende ple_085.010
Anschauungen in uns erweckt, und offenbar sind es die starken ple_085.011
Kontrastwirkungen, durch die sie verschärft und belebt werden: der schwarze ple_085.012
Wald und der weiße Nebel, der blaue Himmel und das warme Gold der ple_085.013
Herbstlandschaft. Das schließt keineswegs aus, daß diese Sinneseindrücke ple_085.014
mit einem starken Gefühlston verbunden, in der Seele des Dichters lebendig ple_085.015
geworden sind und gerade hierdurch auch seine Sprache so kraftvoll und ple_085.016
wirksam gestaltet haben. Aber es ist doch deutlich, daß diese Verse nicht ple_085.017
zunächst Stimmungen und Gefühle und hierdurch erst die Illusion der ple_085.018
bestimmten Anschauung wachrufen, sondern daß es umgekehrt bestimmte ple_085.019
Elemente sinnlicher Farbenanschauungen sind, die in uns erweckt werden ple_085.020
und aus denen die Stimmung vielmehr erst hervorgeht.
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Diese Möglichkeit wird durch eine allgemeinere Erscheinung bewährt. ple_085.022
Es gibt eine Anzahl epischer Dichter und Romanschriftsteller, deren Darstellung ple_085.023
in besonders hohem Maße den Eindruck sinnlicher Anschaulichkeit ple_085.024
hervorruft. Je nach der Richtung, der sie angehören, eignet ihren Bildern ple_085.025
eine komische Drastik oder eine unheimlich visionäre Deutlichkeit. Für ple_085.026
das erste ist Dickens, für das zweite E. A. Poe typisch, während E. Th. A. ple_085.027
Hoffmann beide Wirkungen vereinigt. Konrad Ferdinand Meyers Gestalten ple_085.028
und Szenen besitzen vor allem plastische Festigkeit und monumentale Größe, ple_085.029
während die seines Landsmanns Keller mehr malerische als plastische Eigenschaften ple_085.030
zeigen: lebendige Frische und künstlerische Harmonie der Farben, ple_085.031
feine Abtönung der Landschaft und liebevolle Anschaulichkeit des charakteristischen ple_085.032
Details. Bei allen Genannten aber hat man den Eindruck, daß ple_085.033
sie scharf umrissene Bilder gesehen und wiedergegeben haben, und jeder ple_085.034
einigermaßen phantasievolle Leser wird bei ihrer Lektüre ähnliche, wenn ple_085.035
auch schwächere Bilder zu sehen glauben. Nun mag hieran immerhin die Kraft ple_085.036
des Gefühlslebens, welche Worte und Darstellungen durchtränkt, einen starken ple_085.037
Anteil haben. Vergleicht man aber die genannten Dichter mit anderen, die ihnen ple_085.038
der Gefühlsweise nach verwandt sind, so sieht man bald, daß die Stärke des ple_085.039
Gefühls es nicht allein macht, daß vielmehr noch etwas anderes hinzukommen ple_085.040
muß, um die Eigenart dieser Bildlichkeit zu erklären. Denn Jean Paul empfindet ple_085.041
an sich gewiß nicht schwächer als Dickens, das innere Leben, das ple_085.042
Hölderlins Hyperion erfüllt, ist nicht minder intensiv als das im Grünen ple_085.043
Heinrich, und W. Alexis' Fähigkeit zu phantasievollem Nachempfinden geschichtlicher ple_085.044
Persönlichkeiten und Ereignisse ist nicht geringer als die
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