Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
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ple_084.001 ple_084.004 ple_084.025 ple_084.033 ple_084.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"> <pb facs="#f0098" n="84"/> <lb n="ple_084.001"/> <lg> <l>Aus schweren, warmen Wolken Gifte hauchend,</l> <lb n="ple_084.002"/> <l>In tiefe Ohnmacht Geist und Sinne tauchend, —</l> <lb n="ple_084.003"/> <l>Erinn'rungsträume fahl in Dämmertiefen!</l> </lg> </hi> </p> <p><lb n="ple_084.004"/> Niemand wird sich dem Eindruck verschließen, daß in diesen Versen eine <lb n="ple_084.005"/> tiefe und starke Empfindung zu lebensvollem, tief wirksamem Ausdruck <lb n="ple_084.006"/> kommt. Aber irgendwelche greifbare Anschauung hat der Dichter offenbar <lb n="ple_084.007"/> weder erreicht noch erstrebt. Das Gedicht ist ein Abbild dunkel wogender <lb n="ple_084.008"/> Empfindungen und Gefühle, hervorgerufen durch den Anblick des rotglühenden <lb n="ple_084.009"/> Abendhimmels, beim Einbruch der dämmernden Sommernacht <lb n="ple_084.010"/> mit ihren schwülen Blumengerüchen. Leise verschweben in diesem Chaos <lb n="ple_084.011"/> von Farben und Düften vergangene Erlebnisse, Hoffnungen, die nun zu <lb n="ple_084.012"/> Erinnerungen geworden sind, und mit dem Abendrot dämmernd verschmelzen. <lb n="ple_084.013"/> Aber nirgends ein Bild, alles wogt und schwankt wie die Seele <lb n="ple_084.014"/> des Dichters selbst, in der die Träume der Vergangenheit verschwimmen. — <lb n="ple_084.015"/> Nicht ganz so gegenstandslos, aber doch nahe verwandt dieser Kunst <lb n="ple_084.016"/> reiner Stimmung sind einige Gedichte Mörikes, vor allem eines seiner <lb n="ple_084.017"/> schönsten, der „Gesang zu Zweien in der Nacht“. Auch hier fast nirgends <lb n="ple_084.018"/> ein fest umrissenes Bild, und wo ein solches flüchtig auftaucht wie das <lb n="ple_084.019"/> von den „seligen Feen, die im blauen Saale silberne Spindeln hin und <lb n="ple_084.020"/> wieder drehen“, da gibt es keine Anschauung, bei der wir verweilen sollen: <lb n="ple_084.021"/> eine sanft verschwebende süße Musik, das ist der Charakter dieser Verse. <lb n="ple_084.022"/> Man sieht, es kann ein Gedicht tiefe und echte Stimmungen zu sprachgewaltigem <lb n="ple_084.023"/> Ausdruck bringen und doch von jeder Anschaulichkeit entfernt <lb n="ple_084.024"/> sein.</p> <p><lb n="ple_084.025"/> Und nun eine lyrische Schilderung gänzlich anderer Art. Die erste <lb n="ple_084.026"/> Strophe von Matthias Claudius' Abendlied: <lb n="ple_084.027"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Der Mond ist aufgegangen,</l><lb n="ple_084.028"/><l>Die goldnen Sternlein prangen</l><lb n="ple_084.029"/><l>Am Himmel hell und klar.</l><lb n="ple_084.030"/><l>Der Wald steht schwarz und schweiget,</l><lb n="ple_084.031"/><l>Und aus den Wiesen steiget</l><lb n="ple_084.032"/><l>Der weise Nebel wunderbar.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_084.033"/> Hier ist wahrlich von Gefühlsleben wenig zu spüren. Fast sachlich trocken <lb n="ple_084.034"/> stehen die Sätze nebeneinander. Nur das eine Schlußwort „wunderbar“ <lb n="ple_084.035"/> deutet eine Stimmung an. Und doch ist es zweifellos, daß der Dichter <lb n="ple_084.036"/> ein hohes Maß wirklicher Anschaulichkeit erreicht hat: die meisten Leser <lb n="ple_084.037"/> werden den dunklen Wald, die sternbeschienene Wiese, von der er sich <lb n="ple_084.038"/> abhebt und aus der die weißen Nebel aufsteigen, scharf umrissen vor sich <lb n="ple_084.039"/> zu sehen glauben. Woher nun aber diese kraftvolle Anschaulichkeit, <lb n="ple_084.040"/> wenn sie nicht aus der Stimmung, dem bewegten Gefühl heraus, erklärt <lb n="ple_084.041"/> werden kann?</p> <p><lb n="ple_084.042"/> Auch hier möge ein hübsches kleines Gedicht Mörikes die Beobachtung <lb n="ple_084.043"/> unterstützen: </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0098]
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Aus schweren, warmen Wolken Gifte hauchend, ple_084.002
In tiefe Ohnmacht Geist und Sinne tauchend, — ple_084.003
Erinn'rungsträume fahl in Dämmertiefen!
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Niemand wird sich dem Eindruck verschließen, daß in diesen Versen eine ple_084.005
tiefe und starke Empfindung zu lebensvollem, tief wirksamem Ausdruck ple_084.006
kommt. Aber irgendwelche greifbare Anschauung hat der Dichter offenbar ple_084.007
weder erreicht noch erstrebt. Das Gedicht ist ein Abbild dunkel wogender ple_084.008
Empfindungen und Gefühle, hervorgerufen durch den Anblick des rotglühenden ple_084.009
Abendhimmels, beim Einbruch der dämmernden Sommernacht ple_084.010
mit ihren schwülen Blumengerüchen. Leise verschweben in diesem Chaos ple_084.011
von Farben und Düften vergangene Erlebnisse, Hoffnungen, die nun zu ple_084.012
Erinnerungen geworden sind, und mit dem Abendrot dämmernd verschmelzen. ple_084.013
Aber nirgends ein Bild, alles wogt und schwankt wie die Seele ple_084.014
des Dichters selbst, in der die Träume der Vergangenheit verschwimmen. — ple_084.015
Nicht ganz so gegenstandslos, aber doch nahe verwandt dieser Kunst ple_084.016
reiner Stimmung sind einige Gedichte Mörikes, vor allem eines seiner ple_084.017
schönsten, der „Gesang zu Zweien in der Nacht“. Auch hier fast nirgends ple_084.018
ein fest umrissenes Bild, und wo ein solches flüchtig auftaucht wie das ple_084.019
von den „seligen Feen, die im blauen Saale silberne Spindeln hin und ple_084.020
wieder drehen“, da gibt es keine Anschauung, bei der wir verweilen sollen: ple_084.021
eine sanft verschwebende süße Musik, das ist der Charakter dieser Verse. ple_084.022
Man sieht, es kann ein Gedicht tiefe und echte Stimmungen zu sprachgewaltigem ple_084.023
Ausdruck bringen und doch von jeder Anschaulichkeit entfernt ple_084.024
sein.
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Und nun eine lyrische Schilderung gänzlich anderer Art. Die erste ple_084.026
Strophe von Matthias Claudius' Abendlied: ple_084.027
Der Mond ist aufgegangen, ple_084.028
Die goldnen Sternlein prangen ple_084.029
Am Himmel hell und klar. ple_084.030
Der Wald steht schwarz und schweiget, ple_084.031
Und aus den Wiesen steiget ple_084.032
Der weise Nebel wunderbar.
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Hier ist wahrlich von Gefühlsleben wenig zu spüren. Fast sachlich trocken ple_084.034
stehen die Sätze nebeneinander. Nur das eine Schlußwort „wunderbar“ ple_084.035
deutet eine Stimmung an. Und doch ist es zweifellos, daß der Dichter ple_084.036
ein hohes Maß wirklicher Anschaulichkeit erreicht hat: die meisten Leser ple_084.037
werden den dunklen Wald, die sternbeschienene Wiese, von der er sich ple_084.038
abhebt und aus der die weißen Nebel aufsteigen, scharf umrissen vor sich ple_084.039
zu sehen glauben. Woher nun aber diese kraftvolle Anschaulichkeit, ple_084.040
wenn sie nicht aus der Stimmung, dem bewegten Gefühl heraus, erklärt ple_084.041
werden kann?
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Auch hier möge ein hübsches kleines Gedicht Mörikes die Beobachtung ple_084.043
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