Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_088.001 ple_088.009 ple_088.025 ple_088.001 ple_088.009 ple_088.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0102" n="88"/><lb n="ple_088.001"/> Punkte hat Meyer recht — kann sich ein gleich starker Gefühlsgehalt <lb n="ple_088.002"/> an die allgemeine Vorstellung wie an das konkrete Bild knüpfen. <lb n="ple_088.003"/> Und dieser Gefühlsgehalt ist es, den die Sprache zuerst und unmittelbar <lb n="ple_088.004"/> erweckt. Auch die Anschauung gewinnt Leben und Kraft immer nur aus <lb n="ple_088.005"/> dem inneren Erlebnis, der Empfindung. Aber die Eigenart dieser Empfindung <lb n="ple_088.006"/> und dieses Lebens wird wesentlich mit bestimmt durch das Maß <lb n="ple_088.007"/> von Anschaulichkeit und Schärfe, das den Erinnerungsbildern und den <lb n="ple_088.008"/> daraus hervorwachsenden Phantasiebildern eignet.</p> <p><lb n="ple_088.009"/> So erklärt es sich auch, daß die auffallendsten Eindrücke, d. h. solche, <lb n="ple_088.010"/> die sich von dem gewöhnlichen Erlebnis am stärksten abheben, im allgemeinen <lb n="ple_088.011"/> auch am anschaulichsten wirken; also scharfe Kontraste in <lb n="ple_088.012"/> Farben und Tönen, abnorme Körperformen, absonderliche Bewegungen. <lb n="ple_088.013"/> Daher finden wir bei den meisten stark visuellen Dichtern die Neigung <lb n="ple_088.014"/> zu dieser Art von Drastik, die ihre Wirkung niemals ganz verfehlt. Ein <lb n="ple_088.015"/> Beispiel scharfer Farbenkontrastierung gab uns schon Matthias Claudius' <lb n="ple_088.016"/> Abendlied. Viel weiter gehen die späteren Novellisten darin. Poes „Maske <lb n="ple_088.017"/> des roten Todes“ ist ein Virtuosenstück in dieser Art, das fast ganz und <lb n="ple_088.018"/> gar auf eine grobe, aber sichere Farbenwirkung gestellt ist. Dickens wirkt <lb n="ple_088.019"/> vor allem durch die eigentümlich charakteristischen Bewegungen, die er <lb n="ple_088.020"/> seinen Menschen beilegt: wir haben doch alle mehr als einen bloßen Gefühlseindruck, <lb n="ple_088.021"/> wenn wir im Copperfield lesen, wie Uriah Heep seinen langen <lb n="ple_088.022"/> Körper in beständigen Verbeugungen und Verdrehungen krümmt und dabei <lb n="ple_088.023"/> die feuchten langen Finger ineinander windet, oder wie Betsey Trotwood <lb n="ple_088.024"/> mit dem Rücken ihres Daumens die Nase reibt.</p> <p><lb n="ple_088.025"/> Was hier von der dichterischen Darstellung im allgemeinen gesagt <lb n="ple_088.026"/> ist, das findet seine Erklärung in dem Wesen ihres Ausdrucksmittels, der <lb n="ple_088.027"/> Sprache. Dasselbe Wort, dieselbe sprachliche Vorstellung bedeutet zwar dasselbe <lb n="ple_088.028"/> für jeden, der es schreibt oder liest, aber es hat darum keineswegs <lb n="ple_088.029"/> auch für jeden den gleichen Reichtum des Inhalts und die gleiche Färbung. <lb n="ple_088.030"/> Das Wort „Meeresrauschen“ oder „Waldeinsamkeit“ wird in verschiedenen <lb n="ple_088.031"/> Seelen vermutlich sehr verschiedene Bilder und Empfindungen erwecken. <lb n="ple_088.032"/> Gewiß das Individuelle als solches läßt sich nicht aussprechen. Aber es <lb n="ple_088.033"/> ist ebenso zweifellos, daß das allgemein Ausgedrückte, die sprachlich fixierte <lb n="ple_088.034"/> Vorstellung, eben weil sie allgemeiner Natur ist, beim Sprechen und Hören <lb n="ple_088.035"/> mit individuellem Inhalt erfüllt wird. Die Sprache gestattet ihrer Natur <lb n="ple_088.036"/> nach dem Dichter das, was er voll und reich in sich erlebt hat, immer <lb n="ple_088.037"/> nur in Umrissen und Grundschattierungen wiederzugeben. Er muß es <lb n="ple_088.038"/> dem Leser überlassen, dieselben aufs neue mit individuellem Inhalt zu erfüllen <lb n="ple_088.039"/> und zu beleben. Jedes Gedicht ist eine Art von Aufforderung hierzu <lb n="ple_088.040"/> und stellt in diesem Sinne dem Leser eine Aufgabe. Daher ist künstlerisches <lb n="ple_088.041"/> Aufnehmen und Verstehen niemals ein rein passives Empfangen <lb n="ple_088.042"/> und Genießen: es erhebt stets Anspruch an die tätige Kraft der Phantasie <lb n="ple_088.043"/> und des Denkens.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [88/0102]
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Punkte hat Meyer recht — kann sich ein gleich starker Gefühlsgehalt ple_088.002
an die allgemeine Vorstellung wie an das konkrete Bild knüpfen. ple_088.003
Und dieser Gefühlsgehalt ist es, den die Sprache zuerst und unmittelbar ple_088.004
erweckt. Auch die Anschauung gewinnt Leben und Kraft immer nur aus ple_088.005
dem inneren Erlebnis, der Empfindung. Aber die Eigenart dieser Empfindung ple_088.006
und dieses Lebens wird wesentlich mit bestimmt durch das Maß ple_088.007
von Anschaulichkeit und Schärfe, das den Erinnerungsbildern und den ple_088.008
daraus hervorwachsenden Phantasiebildern eignet.
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So erklärt es sich auch, daß die auffallendsten Eindrücke, d. h. solche, ple_088.010
die sich von dem gewöhnlichen Erlebnis am stärksten abheben, im allgemeinen ple_088.011
auch am anschaulichsten wirken; also scharfe Kontraste in ple_088.012
Farben und Tönen, abnorme Körperformen, absonderliche Bewegungen. ple_088.013
Daher finden wir bei den meisten stark visuellen Dichtern die Neigung ple_088.014
zu dieser Art von Drastik, die ihre Wirkung niemals ganz verfehlt. Ein ple_088.015
Beispiel scharfer Farbenkontrastierung gab uns schon Matthias Claudius' ple_088.016
Abendlied. Viel weiter gehen die späteren Novellisten darin. Poes „Maske ple_088.017
des roten Todes“ ist ein Virtuosenstück in dieser Art, das fast ganz und ple_088.018
gar auf eine grobe, aber sichere Farbenwirkung gestellt ist. Dickens wirkt ple_088.019
vor allem durch die eigentümlich charakteristischen Bewegungen, die er ple_088.020
seinen Menschen beilegt: wir haben doch alle mehr als einen bloßen Gefühlseindruck, ple_088.021
wenn wir im Copperfield lesen, wie Uriah Heep seinen langen ple_088.022
Körper in beständigen Verbeugungen und Verdrehungen krümmt und dabei ple_088.023
die feuchten langen Finger ineinander windet, oder wie Betsey Trotwood ple_088.024
mit dem Rücken ihres Daumens die Nase reibt.
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Was hier von der dichterischen Darstellung im allgemeinen gesagt ple_088.026
ist, das findet seine Erklärung in dem Wesen ihres Ausdrucksmittels, der ple_088.027
Sprache. Dasselbe Wort, dieselbe sprachliche Vorstellung bedeutet zwar dasselbe ple_088.028
für jeden, der es schreibt oder liest, aber es hat darum keineswegs ple_088.029
auch für jeden den gleichen Reichtum des Inhalts und die gleiche Färbung. ple_088.030
Das Wort „Meeresrauschen“ oder „Waldeinsamkeit“ wird in verschiedenen ple_088.031
Seelen vermutlich sehr verschiedene Bilder und Empfindungen erwecken. ple_088.032
Gewiß das Individuelle als solches läßt sich nicht aussprechen. Aber es ple_088.033
ist ebenso zweifellos, daß das allgemein Ausgedrückte, die sprachlich fixierte ple_088.034
Vorstellung, eben weil sie allgemeiner Natur ist, beim Sprechen und Hören ple_088.035
mit individuellem Inhalt erfüllt wird. Die Sprache gestattet ihrer Natur ple_088.036
nach dem Dichter das, was er voll und reich in sich erlebt hat, immer ple_088.037
nur in Umrissen und Grundschattierungen wiederzugeben. Er muß es ple_088.038
dem Leser überlassen, dieselben aufs neue mit individuellem Inhalt zu erfüllen ple_088.039
und zu beleben. Jedes Gedicht ist eine Art von Aufforderung hierzu ple_088.040
und stellt in diesem Sinne dem Leser eine Aufgabe. Daher ist künstlerisches ple_088.041
Aufnehmen und Verstehen niemals ein rein passives Empfangen ple_088.042
und Genießen: es erhebt stets Anspruch an die tätige Kraft der Phantasie ple_088.043
und des Denkens.
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