Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.
ple_091.001 ple_091.005 berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit ple_091.009 hin nicht prüfen: ple_091.010 Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, ple_091.011 [Annotation]Die eine will sich von der andern trennen; ple_091.012 Die eine hält, in derber Liebeslust, ple_091.013 Sich an die Welt, mit klammernden Organen; ple_091.014 Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust ple_091.015 Zu den Gefilden hoher Ahnen. ple_091.016 ple_091.020 ple_091.027 1) ple_091.043
Hierüber hat K. Bruchmann schon in seinen wertvollen "Psychologischen Studien ple_091.044 zur Sprachgeschichte", Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in ple_091.045 seine sogleich zu nennende "Poetik" aufgenommen.
ple_091.001 ple_091.005 berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit ple_091.009 hin nicht prüfen: ple_091.010 Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, ple_091.011 [Annotation]Die eine will sich von der andern trennen; ple_091.012 Die eine hält, in derber Liebeslust, ple_091.013 Sich an die Welt, mit klammernden Organen; ple_091.014 Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust ple_091.015 Zu den Gefilden hoher Ahnen. ple_091.016 ple_091.020 ple_091.027 1) ple_091.043
Hierüber hat K. Bruchmann schon in seinen wertvollen „Psychologischen Studien ple_091.044 zur Sprachgeschichte“, Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in ple_091.045 seine sogleich zu nennende „Poetik“ aufgenommen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#aq"> <pb facs="#f0105" n="91"/> <lb n="ple_091.001"/> <lg> <l>Das sie mit Schmerz geboren, nicht verfluchen.</l> <lb n="ple_091.002"/> <l> <hi rendition="#g">Nicht hört der Himmel solche sündige</hi> </l> <lb n="ple_091.003"/> <l> <hi rendition="#g">Gebete; schwer von Tränen, fallen sie</hi> </l> <lb n="ple_091.004"/> <l> <hi rendition="#g">Zurück von seinem leuchtenden Gewölbe.</hi> </l> </lg> </hi> <anchor xml:id="le040"/> <note targetEnd="#le040" type="metapher" ana="#m1-0-3-1 #m1-2-1-0 #m1-4-1-0 #m1-5-2-5 #m1-9-1" target="#le039"> Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) <bibl><title> Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder </title><space dim="horizontal"/><ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0</ref></bibl> </note> </p> <p><lb n="ple_091.005"/><anchor xml:id="le041"/> Die Worte werden bei jedem Hörer wirken, und doch kommen sie zu <lb n="ple_091.006"/> keinem deutlichen Bild: womit werden die Verwünschungen verglichen, die <lb n="ple_091.007"/> tränenschwer vom leuchtenden Himmelsgewölbe herabsinken? <anchor xml:id="le042"/> <note targetEnd="#le042" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-2-1-0 #m1-4-1-0 #m1-5-2-5 #m1-9-1" target="#le041"> Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) <bibl><title> Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder </title><space dim="horizontal"/><ref>https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0</ref></bibl> </note> <anchor xml:id="le043"/> Selbst die <lb n="ple_091.008"/> berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit <lb n="ple_091.009"/> hin nicht prüfen: <lb n="ple_091.010"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,</l><lb n="ple_091.011"/><l>Die eine will sich von der andern trennen;</l><lb n="ple_091.012"/><l>Die eine hält, in derber Liebeslust,</l><lb n="ple_091.013"/><l>Sich an die Welt, mit klammernden Organen;</l><lb n="ple_091.014"/><l>Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust</l><lb n="ple_091.015"/><l>Zu den Gefilden hoher Ahnen.</l></lg></hi> <anchor xml:id="le044"/> <note targetEnd="#le044" type="metapher" ana="#m1-0-3-1 #m1-2-1-0 #m1-4-1-1 #m1-5-2-2 #m1-9-1" target="#le043"/></p> <p><lb n="ple_091.016"/><anchor xml:id="le045"/> Der Hauptzug, das Streben nach entgegengesetzten Richtungen des Seelenflugs <lb n="ple_091.017"/> wird deutlich, aber ein einheitliches Bild ergeben die Einzelzüge <lb n="ple_091.018"/> gewiß nicht. Und doch welche Wirkung ist von dieser Stelle ausgegangen <lb n="ple_091.019"/> und erneuert sich bei jedem erneuten Lesen! <anchor xml:id="le046"/> <note targetEnd="#le046" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-2-1-0 #m1-4-1-1 #m1-5-2-2" target="#le045"/> </p> <p><lb n="ple_091.020"/> Nur aus dieser Natur des sprachlichen Bildes kann auch die Wirkung <lb n="ple_091.021"/> der <hi rendition="#g">Hyperbel</hi> erklärt werden.<note xml:id="ple_091_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_091.043"/> Hierüber hat <hi rendition="#k">K. Bruchmann</hi> schon in seinen wertvollen „Psychologischen Studien <lb n="ple_091.044"/> zur Sprachgeschichte“, Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in <lb n="ple_091.045"/> seine sogleich zu nennende „<hi rendition="#g">Poetik</hi>“ aufgenommen.</note> Die sprachliche Übertreibung bedeutet <lb n="ple_091.022"/> stets ein Durchbrechen des Bildes. Sie würde zumeist rettungslos ins <lb n="ple_091.023"/> Lächerliche verfallen, wenn man sie als Bild ausmalen wollte: „O, daß ich <lb n="ple_091.024"/> tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund!“ Sie ist also nur <lb n="ple_091.025"/> dazu da, um den gefühlsmäßigen Eindruck zu verstärken und nur deshalb <lb n="ple_091.026"/> erträglich, weil sie nichts weiter will als dies.</p> <p><lb n="ple_091.027"/> Das Gleiche gilt endlich von der <hi rendition="#g">Personifikation.</hi> Sie ist nur <lb n="ple_091.028"/> wirksam, wenn sie unmittelbar aus einem starken Empfinden hervorgeht, <lb n="ple_091.029"/> von innen heraus durch die Stimmung belebt wird; sonst bleibt sie eine <lb n="ple_091.030"/> rein rhetorische Wendung, die nichts als die Geschlechtsbezeichnung des <lb n="ple_091.031"/> Worts zum Ausdruck bringt: Walthers „frouwe Mâze“, „frô Unfuoge“ kamen <lb n="ple_091.032"/> seinen Hörern schwerlich als lebendige Wesen zum Bewußtsein, während <lb n="ple_091.033"/> der „hêr Stock“, eine Ausgeburt grimmigen Hohnes, eben als solche eine <lb n="ple_091.034"/> Art persönlichen Lebens empfängt. Wie aber aus der vollen Stimmung <lb n="ple_091.035"/> heraus die Vorstellung persönliche Gestalt und lebendiges Dasein gewinnt, <lb n="ple_091.036"/> zeigen besonders schön eine Anzahl Stellen in Goethes Iphigenie. <lb n="ple_091.037"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>So steigst du denn, <hi rendition="#g">Erfüllung,</hi> schönste Tochter</l><lb n="ple_091.038"/><l>Des größten Vaters, endlich zu mir nieder:</l><lb n="ple_091.039"/><l>Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir!</l><lb n="ple_091.040"/><l>Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die</l><lb n="ple_091.041"/><l>Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt,</l><lb n="ple_091.042"/><l>Die Schätze des Olympus niederbringen.</l></lg></hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [91/0105]
ple_091.001
Das sie mit Schmerz geboren, nicht verfluchen. ple_091.002
Nicht hört der Himmel solche sündige ple_091.003
Gebete; schwer von Tränen, fallen sie ple_091.004
Zurück von seinem leuchtenden Gewölbe.
Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0
ple_091.005
Die Worte werden bei jedem Hörer wirken, und doch kommen sie zu ple_091.006
keinem deutlichen Bild: womit werden die Verwünschungen verglichen, die ple_091.007
tränenschwer vom leuchtenden Himmelsgewölbe herabsinken? Quellenangabe/Werk: Die Braut von Messina (Schiller) Friedrich Schiller: Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder https://textgridrep.org/browse/-/browse/v0d8_0 Selbst die ple_091.008
berühmte Stelle von den zwei Seelen im Faust dürfen wir auf ihre Anschaulichkeit ple_091.009
hin nicht prüfen: ple_091.010
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, ple_091.011
Die eine will sich von der andern trennen; ple_091.012
Die eine hält, in derber Liebeslust, ple_091.013
Sich an die Welt, mit klammernden Organen; ple_091.014
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust ple_091.015
Zu den Gefilden hoher Ahnen.
ple_091.016
Der Hauptzug, das Streben nach entgegengesetzten Richtungen des Seelenflugs ple_091.017
wird deutlich, aber ein einheitliches Bild ergeben die Einzelzüge ple_091.018
gewiß nicht. Und doch welche Wirkung ist von dieser Stelle ausgegangen ple_091.019
und erneuert sich bei jedem erneuten Lesen!
ple_091.020
Nur aus dieser Natur des sprachlichen Bildes kann auch die Wirkung ple_091.021
der Hyperbel erklärt werden. 1) Die sprachliche Übertreibung bedeutet ple_091.022
stets ein Durchbrechen des Bildes. Sie würde zumeist rettungslos ins ple_091.023
Lächerliche verfallen, wenn man sie als Bild ausmalen wollte: „O, daß ich ple_091.024
tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund!“ Sie ist also nur ple_091.025
dazu da, um den gefühlsmäßigen Eindruck zu verstärken und nur deshalb ple_091.026
erträglich, weil sie nichts weiter will als dies.
ple_091.027
Das Gleiche gilt endlich von der Personifikation. Sie ist nur ple_091.028
wirksam, wenn sie unmittelbar aus einem starken Empfinden hervorgeht, ple_091.029
von innen heraus durch die Stimmung belebt wird; sonst bleibt sie eine ple_091.030
rein rhetorische Wendung, die nichts als die Geschlechtsbezeichnung des ple_091.031
Worts zum Ausdruck bringt: Walthers „frouwe Mâze“, „frô Unfuoge“ kamen ple_091.032
seinen Hörern schwerlich als lebendige Wesen zum Bewußtsein, während ple_091.033
der „hêr Stock“, eine Ausgeburt grimmigen Hohnes, eben als solche eine ple_091.034
Art persönlichen Lebens empfängt. Wie aber aus der vollen Stimmung ple_091.035
heraus die Vorstellung persönliche Gestalt und lebendiges Dasein gewinnt, ple_091.036
zeigen besonders schön eine Anzahl Stellen in Goethes Iphigenie. ple_091.037
So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter ple_091.038
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder: ple_091.039
Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir! ple_091.040
Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die ple_091.041
Mit Frucht und Segenskränzen angefüllt, ple_091.042
Die Schätze des Olympus niederbringen.
1) ple_091.043
Hierüber hat K. Bruchmann schon in seinen wertvollen „Psychologischen Studien ple_091.044
zur Sprachgeschichte“, Leipzig 1888, das Richtige ausgesprochen und das Ergebnis in ple_091.045
seine sogleich zu nennende „Poetik“ aufgenommen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |